Christiane Neudecker: Sommernovelle, Luchterhand Literaturverlag, München 2015, 162 Seiten, €16,99, 978-3-630-87459-3

„An die Nordsee fahren und Vögel zählen – ich hatte wirklich schon bessere Einfälle in meinem Leben gehabt.“

Panda, die Ich-Erzählerin, und Lotte, beide 15 Jahre alt, wollen die Welt verändern oder zumindest etwas tun, dass so einiges verbessern könnte. Es ist Pfingsten, 1989 und die Mädchen sind auf dem Weg zu einer Nordseeinsel, um bei einem Projekt in Vögel zu zählen. Es ist die Zeit, in der Panda all ihre Sachen schwarz gefärbt hat, weil ihr Schwarm zwei Klassen über ihr auch immer in schwarz herumläuft. Sie ist schon mal geküsst worden, Lotte noch nie. Beide Mädchen kennen sich seit Kindergartenzeiten und vertrauen sich alles an. Sie rebellieren gegen die Eltern, sie verdrängen ihre Unerfahrenheit und sie wollen alles anders machen. Panda ist ziemlich aufbrausend und äußert unreflektiert ihre Meinung. Es ist die Zeit, der quälenden Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, es ist die Zeit der Pubertät, der hilflosen Orientierungssuche und der ersten, enttäuschenden Liebe, zumindest für Lotte.

In der Vogelstation des Professors angekommen zweifelt Panda, ob sie wirklich in der Lage ist den Himmel zu lesen. Seltsam sind die Leute, die mit ihnen zusammen arbeiten werden. Da ist das alte Fräulein Schmidt, vor dem die Mädchen zum Schlafen in den Keller flüchten oder die beiden Rentner Hiller und Sebald, die versierte Vogelkundler sind und Wanda, die nicht kochen kann. Und da ist der lebensfrohe Julian, in den sich Lotte gleich verknallt. Die Mädchen lieben die Landschaft der Insel und sie lernen blitzschnell die Vogelarten. Bei den Wattführungen, die Panda bewältigen muss, wirkt sie zwar noch verunsichert, aber es ist schon ein Stück Freiheit, auch wenn sie ab und zu Heimweh haben, das sie erlebt. Mit Hiller geht Panda sogar einen Pakt ein. Sie soll ein bestimmtes Zitat aus einem Buch finden und er lehrt sie, den Himmel zu lesen.

Alle Sorglosigkeit jedoch fällt von den Mädchen ab, als der Professor anreist. Er verbreitet mit seiner Arbeitswut eine unangenehme Stimmung, verlangt vieles, was die Mädchen nicht leisten können und wirkt aggressiv, wenn er sie sieht. Sind sie doch zu jung für die Aufgaben auf der Station? Oder ist dieses Projekt, wie Panda vermutet, gar nicht so ernst zu nehmen, wie alle vorgeben? Was geschieht wirklich mit den Daten, die gesammelt werden?

Im Duktus der gesprochenen Sprache geschrieben, vermag es Christiane Neudecker auf wunderbar poetische Weise die einmalige Nordseelandschaft, das Meer, die Vogelwelt, aber auch die Atmosphäre und die Stimmung zwischen den Figuren zu beschreiben. Es scheint so, als seien es autobiographische Aufzeichnungen, die im Wechsel aus Reflexionen und Beschreibungen der Vergangenheit, erinnert wurden. Panda und Lotte erleben diesen Sommer auf ganz eigene Weise. Panda und Lotte sind auf dem Weg zum Erwachsenwerden und der weite Himmel, die Vögel, die Freiheit dieses ersten Urlaubs stehen für die Loslösung, trotz Heimweh, aus der Familie, der gewohnten Strukturen, die plötzlich keinen Halt mehr geben.

Letztendlich verlassen die Mädchen verfrüht und im Unfrieden die Insel. Im Nachhinein jedoch ist nicht ganz klar, ob der Idealismus des Professors nicht doch sinnvoll war. Und doch hat dieser Sommer Panda geprägt, denn sie vermag es, den Himmel bis heute zu lesen.