Sarah Moss: Sommer helle Nächte – Unser Jahr in Island, Aus dem Englischen von Nicole Seifert, Mare Verlag, Hamburg 2014, 395 Seiten, €22,00, 978-3-86648-186-2

„Ich bin fasziniert von diesem Ort, aber ich verstehe ihn nicht, und bisher habe ich nicht mehr begriffen, als dass es nicht leicht wird, ihn zu verstehen.“

Bereits als Studentin hatte Sarah Moss das Land ihrer Träume, Island, mit einer Freundin bereist. Sie war fasziniert von der Landschaft, den Vögeln, neugierig auf die Menschen, ja allem, was das spröde Island versprach. Aber dann kehrte der Alltag wieder ein. Sie lebt mit ihrer Familie in Kent, hat zwei Söhne geboren, ein Haus gekauft, eine gute Stelle an der Uni. Die Sehnsucht jedoch blieb. Dann die entscheidende Wendung. Ihr Mann verlor seinen Job, ihr ältester Sohn Max war an seiner Schule unglücklich und sie wieder auf der Suche nach dem Abenteuer – Island. In Reykjavík kann Sarah Moss für ein Jahr Studenten in ihrem Spezialgebiet der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts unterrichten.

Sehr persönlich, aber immer mit dem Blick der Sachbuchautorin für gesellschaftspolitische, historische und kulturelle Fragen und Themen hat die britische Autorin Sarah Moss dieses absolut lesenswerte Buch geschrieben. Sie öffnet dem Leser, der nie seinen Fuß auf die Insel gesetzt hat, die Augen für Land und Leute.
Und Sarah Moss gelangt mit ihrer Familie auf die Insel ausgerechnet im Jahr der schwersten Finanzkrise – 2008. Neben ihrer Lehrtätigkeit versucht Sarah Moss so viel wie möglich über das Leben in Island herauszufinden. Eigene Erfahrungen gehen Interviews voraus. Mit nur wenig Gepäck hofft die Familie einiges für die Wohnung (auch ein schwieriges Kapitel, denn in Island wird kaum vermietet) in der Hauptstadt billig erstehen zu können, denn Sarahs Gehalt ist nicht gerade üppig. Sie müssen feststellen, dass Isländer nichts Gebrauchtes verkaufen. Schwierig ist auch die Ernährung mit frischem Obst oder Gemüse. Mit der Krise steigen die Lebensmittelpreise enorm.

Island stellt sich im Laufe der Zeit als ein sehr widersprüchliches Land in vielen Beziehungen heraus. Bus fahren ist schon fast ein Schande. Jeder besitzt, was in bestimmten Regionen sicher sein muss, ein Auto oder gleich mehrere. Aber die Isländer sind lausige Fahrer, so der Eindruck von Sarah Moss. Isländer plaudern nicht an Bushaltestellen oder in Geschäften. Jeder kann mit einer Waffe, wenn die Munition extra transportiert wird, in ein Flugzeug steigen. Leute, die rechtskräftig verurteilt sind und ins Gefängnis müssen, landen auf einer Warteliste. Drei Wochen bevor sie inhaftiert werden, geht ihnen ein Bescheid zu. Es gibt einfach zu wenige Zellen. Auch die Benimmregeln sind in Island etwas anders. Es ist nicht üblich am Tisch, um etwas zu bitten oder sich zu bedanken. Die Kartoffeln stehen auf dem Tisch oder das Salz und man bekommt es.
„ – die Kluft zwischen Arm und Reich ist sehr viel kleiner als in Großbritannien, dass niedrige Verbrechensraten für gewöhnlich mit sozioökonomischer Gleichheit einhergehen, dass diesen Unterschieden in Island und dem restlichen Europa komplexe Gründe und eine einzigartige Geschichte zugrunde liegen. Nach den ersten sechs Wochen stelle ich die Hypothese auf, dass es mit sozialer Gleichheit zu tun hat, mit Vertrauen und besserem Benehmen – jedenfalls, solange die Menschen sich nicht hinters Lenkrad setzen oder eine Bank leiten.“
Doch vieles ist viel liberaler als in Großbritannien. Studentinnen bekommen ohne große finanzielle Probleme Kinder bereits im Studium und können an Sarah Moss‘ Unterricht mit ganz anderen Lebenserfahrungen herangehen als die Studenten daheim. Glücklich sind beide Kinder der Autorin in ihren Einrichtungen. Die Schule für Max ist eine offene Einrichtung, ohne Kameraüberwachung. Tobias liebt seinen Kindergarten, er lernt sehr schnell isländisch und würde am liebsten den gesamten Tag mit den Kindern verbringen.
Sarah Moss taucht so weit es geht, in den Alltag der neuen Landsleute ein. Sie kommt im Juni mit ihrer Familie an und durchlebt den extrem langen Winter. Sie bändigt ihre Kinder, die es nie lang in der Wohnung hält, geht in die Schwimmbäder und fragt sich, was all die anderen Isländer wohl an den Wochenenden treiben, da nie jemand zu sehen ist. Familienbesuche sind in Island angesagt.

Immer wieder fragt sich Sarah Moss, warum der Einbruch der Finanzen im Alltag nicht sichtbar ist. Zu viele Menschen hatten übers Ausland finanziert sich zu große Wohnungen, Autos oder Fernseher ohne finanzielle Sicherheiten gekauft. Doch auch Island, eher versteckt, hat eine Armutsschicht, die auf Lebensmittelpakete angewiesen ist.
Und dann geschieht ein Naturereignis: der Vulkan Eyjafjallajökull bricht aus.

Sarah Moss‘ Erinnerungen an ihr Jahr in Island lesen sich einfach fantastisch, denn sie verbindet scheinbar mühelos faktenreiche und witzige Unterhaltung über alltägliche Erfahrungen und tiefgehende intellektuelle Entwicklungen und Landesprobleme. \r\nEs ist die Mischung aus Privatem und gesellschaftlich Interessantem, das die Lektüre so spannend macht.