Herman Koch: Sehr geehrter Herr M., Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby und Herbert Post, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 400 Seiten, €19,99, 978-3-462-04738-7
„ Was erwarten wir von einem Roman? Das jemand eine Entwicklung durchmacht, dass er zu einer universellen Einsicht gelangt? Aber angenommen, es gibt die Entwicklung, diese Einsicht nicht? Was der Wirklichkeit doch im Grunde viel näher käme. Menschen, die sich im Laufe ihres Lebens weiterentwickeln, lassen sich an einer Hand abzählen.“
Ein Nachbar beobachtet den alternden Schriftsteller M., er sieht ihn, er hört ihn in der Wohnung über ihm. Er verfolgt sogar seine Frau und sein Kind. Einst ist M. durch seinen Roman „Abrechnung“ bekannt geworden, ein Erstling und ein großer Erfolg. Erzählt wird die Geschichte von Laura und Herman, die angeblich etwas mit dem Tod ihres Geschichtslehrers Jan Landzaat zu tun hatten. Diese Beobachtungen des Nachbarn sind unheimlich, sie stecken voller Verachtung, sie sehen den arroganten Autor wie er ist. Vor kurzem ist sein letzter Roman mit dem Titel „Befreiungsjahr“ erschienen, kein großer Erfolg und wieder umkreist die Handlung den Krieg. In Interviews brüstet sich der Autor seiner Intelligenz, er gibt gern mit seiner um Jahre jüngeren Frau an und mit seinem vier Jahre alten Kind. Doch wer steckt hinter dem Nachbarn, hinter den Briefen, hinter all dem Erzählten?
In Perspektivwechsel kommen die Schüler von damals zu Wort, aber auch der Geschichtslehrer. Er möchte zu den Lehrern gehören, die von den Schülern gemocht werden, dabei bemerkt er nicht, wie lächerlich, ja angreifbar er sich macht. Er beginnt die kurze Affäre mit dem schönsten Mädchen der Klasse, Laura. Seine Frau verlässt ihn mit den beiden Töchtern daraufhin, nachdem sie den versteckten Ohrring des Mädchens im Bad findet. Landzaat zerfließt gerade zu Weihnachten in Selbstmitleid. Er sucht Laura im Landhaus der Eltern und ihren neuen Freund, Herman, auf und behauptet, er wäre auf der Durchreise und wolle Freunde in Paris treffen.
In Wahrheit existieren diese Freunde gar nicht, Landzaat hofft auf Lauras Rückkehr zu ihm. Schlaksig lang mit einem hässlich Gesicht wirkt Herman auf den Lehrer kaum attraktiv. Herman heißt auch der ominöse Nachbar und Beobachter, der behauptet, er habe mit dem Autor noch etwas vor? Nur was?
„Er war auf einmal verschwunden“, wird der Gymnasiast Herman sagen. Der Lehrer und er waren auf der Suche im hohen Schnee nach einer Autowerkstatt.
Plan B des Lehrers lautet, er verschwindet einfach und die beiden Jugendlichen müssen mit der Schuld leben. Doch haben die beiden den Lehrer vielleicht auch umgebracht? Alles Spekulationen und auch im Roman von M. nie aufgeklärt.
Zwischen Wahrheit und Fiktion, mit immer neu und verwirrend ausgelegten Spuren pendelt die Handlung hin und her. Denkt der Leser, er hat es verstanden, wird er erneut in eine andere Richtung gelenkt. Kurze sarkastische Abstecher in die Welt der Autoren, die sich spinnefeind sind und der Verleger, die auf den höchstmöglichen Profit schauen müssen, amüsiert. Bissig sind diese Begegnungen unter Autoren und enden unter Umständen auch mit einer Prügelei.
Doch wohin geht diese doppelbödige Geschichte? In welcher Beziehung steht der Nachbar zum Autor M., der seinen schriftstellerischen Zenit schon längst überschritten hat und behauptet, ab einem bestimmten Alter mache man keine Erfahrungen mehr. Will das der Nachbar hinterfragen? Warum sucht der Nachbar die Nähe des Autors, um ihm etwas heimzuzahlen?
Parallele Erzählstränge, die Erzählung in der Erzählung, auch das ist die Technik von Herrn M., der eigentlich mittlerweile von allem genervt ist, von seinen treuen Lesern, meistens Frauen und alle etwas älter ( die jungen Frauen kennen ihn nicht mehr ), von seinem Verleger, der ihm Interviews aufdrückt, die er nicht geben will und vor allem von den Fotografen, die ihn garantiert nach stundenlangem Ausprobieren vor die eigene Bücherwand stellen.
Immer endet das Kapitel mit einem spannenden Cliffhanger. Man muss weiterlesen, obwohl man doch immer noch rätselt, warum wer mit wem zu tun hat. Erst am Ende wird klar, was Herr M. immer verschwiegen hat.
Nicht ganz unkompliziert ist das Handlungsgemenge zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Reflexionen und Erzählebenen und doch gelingt es dem Niederländer Herman Koch, den Leser unterhaltsam zu fesseln und seine Neugierde intelligent anzustacheln.
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