Zeruya Shalev: Schmerz, Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin Verlag, Berlin 2015, 386 Seiten, €24,00, 978-3-8270-1185-5
„Sie verspürt Angst und Zorn auf ihre Tochter, die ihr ihre Verletzungen bei dem Terroranschlag nicht verziehen hat, vermischt mit Zorn auf sich selbst, dass sie dieses Thema nie aufgeklärt und nicht um sie gekämpft hat, dass sie die Entfremdung zuließ, vermischt mit Feindseligkeit gegen Eitan, der plötzlich aufgetaucht ist ….“
Vor zehn Jahren ist Iris Eilam, am falschen Ort zur falschen Stunde, Opfer eines Terroranschlages in Jerusalem geworden. Als sie einen Bus, der gerade die Haltestelle verließ, hupend überholte, explodierte die Bombe. Zuvor hatte sie ihre Kinder in die Schule gebracht, da aber ihr Mann, Micki, früher als sonst in die Firma musste, hatte sie die Autofahrt übernommen. Ihr siebenjähriger Sohn Omer hatte sich in der Toilette eingeschlossen, weil er nicht in die Schule wollte und der elfjährigen Alma wurde noch ein Zopf geflochten. Alma hatte Angst, dass sie zu spät kommen und Omer war bockig wie immer. Ein im Grunde ganz normaler Wochentagsmorgen – wäre da nicht der schreckliche Moment gewesen, in dem Iris durch die Luft geschleudert wurde, leblose Körper und abgetrennte Gliedmaßen sehen musste.
Schwer verletzt wurde Iris mit zertrümmertem Becken, vielen Brüchen und Splittern im Körper für ein Jahr ins Krankenhaus eingeliefert.
Dieser Schmerz hat das Leben der jetzt fünfundvierzigjährigen Hauptfigur in Zeruya Shalevs neuestem Roman geprägt. Aber nicht nur dieser Schmerz.
Die israelische Autorin, die selbst in Jerusalem lebt, war selbst Überlebende eines Terroranschlags. Auch sie hatte ihr Kind gerade in die Schule gebracht. In ihrem Roman „Der Rest des Lebens“ hat sie ihre Erinnerungen und Gefühle verbunden mit dem schrecklichsten Augenblick in ihrem Leben verarbeitet.
Iris stürzt sich nach ihrer Genesung tief in die Arbeit als Schuldirektorin in einem schwierigen Wohnbezirk. Omer, das schwierige Kind, ist nun fast erwachsen und erstaunlicherweise vernünftig geworden. Alma arbeitet ohne großen Ehrgeiz oder ein Studium aufzunehmen als Kellnerin in Tel Aviv.
Nach der langen Krankheitsphase hat sich innerhalb der Familie vieles verändert. Immer wieder kochen die Schuldzuweisungen hoch, wer wann hätte schneller sein müssen. Omer, der schon immer eine schwierige Beziehung zu seinem Vater hat, behauptet, er sei schuldig an den Verletzungen der Mutter und Alma gibt die Schuld ihrem Bruder, der dieses Theater in der Toilette abgezogen hat.
Micki streitet nur noch mit seiner Frau, er zieht sich immer mehr zurück, sitzt an den Abenden vor seinem Computerschach und Iris zieht in das Zimmer der abwesenden Tochter, um ohne sein Schnarchen endlich schlafen zu können. Immer wieder melden sich die Schmerzen, die Iris belasten.
In einem langen Gedankenstrom berichtet Iris von ihrem Leben und sie erinnert den ersten großen Schmerz in ihrem Leben, als sie siebzehn war, wie ihr Sohn jetzt.
Nicht sonderlich von der Mutter geliebt und ohne Vater groß geworden, fühlt sich Iris zum gleichaltrigen, ernsten Eitan hingezogen. Gut ein Jahr lang pflegt sie mit ihm seine kranke Mutter. Sie liebt ihn innig und glaubt nun, dass sie mit ihm leben wird. \r\nAber Eitan löst sich gleich nach dem Tod der Mutter von Iris und will eine schnelle Trennung ohne große Dramen. Iris fällt in eine tiefe Depression.
Diesen immensen Schmerz, diese verletzende Ablehnung hat sie nie überwunden und nach dreißig Jahren trifft sie Eitan in der Schmerzklinik wieder. Es dauert eine Weile ehe sie ihn erkennt, aber er verlässt dermaßen schnell das Zimmer, das klar ist, er hat sie erkannt.
Hin- und hergerissen zwischen ihrer Jugendliebe, die diese damalige Trennung tief bereut hat, und ihrem Eheleben heute, kann sich Iris nicht entscheiden. Sie lügt für Eitan, um mit ihm zusammen zu sein und sie weiß nicht, ob sie sich wirklich auf einen Mann einlassen kann, den sie heute gar nicht mehr kennt und doch immer noch die Anziehungskraft existiert und was geschieht, wenn sie die Menschen verlässt, die ihr eigentlich am nächsten sind. Eitan lebt nach zwei gescheiterten Ehen in der damaligen Wohnung seiner Mutter. Er ist im Gegensatz zu Iris ein freier Mensch, der diese zweite Chance um jeden Preis will.
Schmerz, unter diesem Wort, speichert Iris Eitans Nummer in ihr Handy.
Hätte Iris wirklich ein vollkommenes Leben gehabt, wenn Eitan sie nicht verlassen hätte? Kann sie ihn jetzt aufgeben? Ist das eine verspätete Genugtuung, ein verdientes Glück?
Iris blüht auf, sie beginnt wieder sich selbst zu spüren. Aber dann gerät ihre Familie ins Wanken, ihr ständiger Konflikt mit ihrer Tochter Alma bricht auf. Offenbar ist sie in Tel Aviv in die Fänge eines Gurus geraten, der sie ausnutzt und per Gehirnwäsche missbraucht.
Zeruya Shalev umkreist, wie in vielen ihrer Romane, die Zerbrechlichkeit der Familie als Kern der Gesellschaft, die ebenfalls instabil ist. In keiner Szene setzt sich Iris mit dem Attentäter auseinander, Zeruya Shalev konzentriert sich sprachlich genau ganz auf ihr Interesse an den Fehlern und Verlusten, mit denen Menschen fertig werden müssen. Sie umkreist gedanklich ihre Figur Iris und die familiären Veränderungen. Alma entfernt sich von der Mutter und scheint sie, feindselig zu betrachten. Micki lastet alle Konflikte Iris an, die sich zwar um fremde Kinder und ihre Probleme kümmern kann, aber für ihre eigenen Kinder hätte sie keine Zeit. Nur der einst so jähzornige Omer ruht in der Mitte der Familie und glättet die Konflikte, die zunehmen werden. Er wird demnächst seine Einberufung zum Militär erhalten und auch hier empfindet Iris einen neuen Schmerz.
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