Elisabeth Herrmann: Schattengrund, cbt, München 2012, 409 Seiten, €14,99, 978-3-570-16126-5
„Sie sollte sich erinnern und etwas verarbeiten, das zwölf Jahre lang ihre Seele verdunkelt hatte. Sie sollte Filis Geheimnis lüften und etwas wiedergutmachen.“
Irgendwann kehrt jeder an den Ort seiner Kindheitserinnerungen zurück. Nun sitzt Nico mutterseelenallein in diesem alten Haus Schattengrund im tief verschneiten Harzer Ort Siebenlehen und kann nicht fort. Hätte sie doch nur das Erbe ihrer Tante Kiana abgelehnt und wäre nicht so neugierig gewesen. Seit zwölf Jahren war Nico nicht mehr bei der Tante, die im Ort als Hexe verschrien ist. Niemand hier scheint Nico willkommen zu heißen, ganz im Gegenteil. Im Bäcker wird der jungen Frau nichts verkauft, im Schwarzen Hirsch wird sie wie eine Aussätzige behandelt und jemand scheint ihr nach dem Leben zu trachten. Wer hat die Krähe ohne Kopf in ihren Schornstein gestopft, um sie per Rauchvergiftung ins Jenseits zu befördern? Wer klaut ihre Sachen aus dem Haus?
Leon, ebenfalls ein zeitweiliger Besucher in Siebenlehen, ist der einzige, der Nico behilflich ist. Immerhin muss sie irgendwie Heizmaterial besorgen und die drei Rätsel laut Testament ihrer Tante lösen.
Durch Träume, die einem seltsamen Déjà-vu ähneln, erkennt die junge Frau, dass es ein Geheimnis an diesem Ort gibt und dieses Geheimnis hat mit ihr zu tun. Oft war Nico bei ihrer Tante Kiana zu Besuch, die so wunderbare Märchen erzählen konnte. Wohl hat sie sich in dem kleinen Dorf gefühlt und sie hatte eine Freundin, Fili. Als die Mädchen sechs Jahre alt waren, geschah ein Unglück.
Angeblich, so wird es Nico unterbreitet, hat sie Fili vor 12 Jahren in den Stollen hoch oben im Berg entführt und dort grausam allein gelassen. Nico wurde damals weit weg vom Stollen ebenfalls fast erfroren gefunden. Sie hat sich wieder erholt, Fili ist gestorben.
Die Dorfgemeinschaft lastet den Tod des Mädchens Nico und ihrer Tante Kiana, die sich angeblich nicht gekümmert hat und die Mädchen mit ihren Sagengeschichten vom silbernen Ritter verblendete, an. Aber Nico durchstöbert das Haus ihrer Tante und findet Zeichnungen von Fili, die etwas offenbaren. Das Kind hat jemanden gezeichnet, vor dem es ungeheure Angst hatte. Vor diesem schwarzen Mann war Fili auf der Flucht.
Leon ist der Neffe des Ehepaares Zach und Trixi. Sie sind die Eltern von Fili und seit zwölf Jahren ist ihr Leben zerstört. Sie haben den Gasthof Schwarzer Hirsch heruntergewirtschaftet und immer wieder hilft Leons Vater dem Bruder finanziell auf die Beine. Als Nico beginnt Filis Familie und den besagten Abend genauer zu betrachten und Vermutungen aufzustellen, verärgert sie Leon und steht letztendlich allein gegen die beklemmenden Enge einer überschaubaren, schweigsamen Dorfgemeinschaft da.
Aber Nico erkennt, ihre Tante Kiana wollte ihr das verdrängte Trauma wieder vor Augen führen. Sie soll nun herausfinden, was wirklich an diesem Abend geschehen ist. Die innere und äußere Kälte in dem Harzer Dorf durchzieht die Geschichte wie ein roter Faden.
In einer komplexen Konstruktion aus Vor- und Rückblenden, aus erinnerter Vergangenheit und Gegenwart schildert Elisabeth Herrmann eine Kinderfreundschaft, die so tragisch enden musste, weil niemand im Ort wirklich nachfragen wollte, warum Fili schon seit längerer Zeit so verändert war. Nur Kiana rückte mit ihren unbequemen Vermutungen heraus und wird fortan geächtet. Ihr erging es nicht anders als ihrer Nichte.
Spannend liest sich dieser Krimi, der eine mutige, junge Frau kurz vor dem 18. Lebensjahr zeigt, die ahnt, dass in ihrer Kindheit irgendetwas schief gelaufen ist und nun Schicht für Schicht Erinnerungen freilegt und ein Last abwirft.
Elisabeth Herrmann nutzt ein uraltes Stilmittel des Krimis. Niemand kann das verschneite Dorf im Harz verlassen und nun müssen sich alle dem stellen, was zwölf Jahre lang nicht nur auf der Seele des Pfarrers lastete. Irgendwann können alle Beteiligten nicht mehr schweigen, irgendwann muss die Wahrheit ans Licht kommen.
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