Sally Smith: Der Tote in der Crown Row, Ein Fall für Sir Gabriel Ward, Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt, Goldmann Verlag, München 2025, 400 Seiten, €22,00, 978-3-442-31792-9
„Man konnte Gabriel vielleicht intellektuelle Überheblichkeit vorwerfen, soziale Differenzen jedoch erzeugten bei ihm keinerlei Scheu.“
Kronanwalt Sir Gabriel Ward zeichnet sich durch seine Präzision in allem aus, z.B. kann man nach seinem Tagesablauf die Uhr stellen. Der Junggeselle ist finanziell abgesichert und lebt allein in seiner mit Büchern vollgestopften Wohnung, liest natürlich leidenschaftlich gern, vergräbt sich am liebsten in komplizierte Fälle und verlässt seinen Londoner Wohnort im gut behüteten Temple-Bezirk der Gerichtsbarkeit, nur wenn es absolut nötig ist. Doch dann versperrt eine Leiche seinen Weg in sein Büro. Das Mordopfer ist der Lordoberrichter von England, Lord Dunning, den Gabriel seit seiner Kinderzeit kennt, aber nicht sonderlich schätzt. Ward hält Dunning für einen fantasielosen, arroganten Richter, der sich genauestens an die Gesetze hält und immer in der Angst lebt, nicht gut genug für den Posten zu sein. Ermordet wurde Dunning mit einem Messer, auf dessen Heft ein Pegasusmotiv zu finden ist. Auffällig ist, dass das Opfer gekleidet in Abendgarderobe keine Strümpfe und Schuhe trägt. Den Tod ereilte Dunning nach einem Kleinen Diner des manipulativen Schatzmeisters Sir William Waring, Präsident des Inner Temple. Dieser beauftragt dann auch Gabriel Ward mit ersten Befragungen, denn die Polizeibeamten sollten möglichst nicht im Allerheiligsten herumtrampeln. Nur Constable Maurice Wright soll Ward assistieren. Ward erkennt schnell, dass ihn das fünfzehnjährige Küchenmädchen Meg anlügt. Sie hatte aus Mitleid an diesem Abend einen polizeibekannten Querulanten und Obdachlosen Broadbent, der von Dunning verurteilt wurde, trotz Schließung des Temple in die Kirche gelassen, damit er eine Unterkunft hat. Und ausgerechnet dieser trägt, als die Polizei ihn festnimmt, die Schuhe des Opfers. Ward weiß ziemlich schnell, dass der ehemalige Häftling Broadbent nicht der Täter sein kann.
Sally Smith lässt ihren Whodunit – Krimi Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts unter ehrwürdigen Männern spielen, die größten Wert auf Tradition und die Einhaltung der Gesetze legen. Durch den geschichtlichen Rahmen und die Wahl der Zeit und des Ortes erspart sich die Autorin, die selbst Kronanwältin im Temple-Bezirk ist, lange Exkurse über forensische Untersuchungen und die gesamte aufwendige Polizeiarbeit. Nur die taktisch klugen Befragungen des Ermittlers Gabriel Ward, der durch seine Lektüren in vielem äußerst belesen ist, führen zu einem Motiv für den grausigen Mord. Parallel zu Wards Interviews mit der Ehefrau des Toten, ihrer Schwägerin und den Beteiligten des geheimnisvollen Diners arbeitet der Barrister an einem eigenen Fall, der demnächst vor Gericht geht. Der Verleger Moore vom Verlag Moore & Söhne hat durch Zufall das Manuskript eines Kinderbuches gefunden, dass seine Tochter mit Begeisterung gelesen hat. „Millie, die Temple-Kirchenmaus“ von Harriet Cadamy wird ein finanziell großer Erfolg. Allerdings weiß niemand, wer die Autorin ist. Als sich nun die wahre Verfasserin des pädagogisch wertvollen, doch ziemlich moralinsauren Buches meldet, ist Moore in Schwierigkeiten. Susan Hatchings will um jeden Preis diesen Prozess um ihr angeblich geistiges Eigentum führen. Als Moore die Hatchings aufsucht, ahnt er, dass sie nie und nimmer dieses Buch geschrieben haben kann, was zu beweisen wäre.
Wie Sally Smith nun in ihrem Debüt diese beiden Fälle, den Mord am Lordoberrichter von England und den Prozess um Urheberrechte an einem Kinderbuch verbindet, liest sich trotz verschachtelter und leicht angestaubter Sprache, die dem Zeitgeist Anfang des 20. Jahrhunderts geschuldet ist, äußerst spannend. Der Plot ist klug konstruiert und durchsetzt mit gesellschaftskritischen Hieben einerseits gegen die Allüren der Oberschicht und deren herablassender Haltung gegenüber Frauen, andererseits gegen Machenschaften der Kirche.
Die Hauptfigur Sir Gabriel Ward ist trotz aller schrulligen Eigenwilligkeiten ein lebensbejahender Mann, der Mitgefühl auch über Standesgrenzen hinaus zeigen kann und vor allem die richtigen Fragen stellt.
Hoffentlich gibt es ein Wiedersehen mit Sir Gabriel Ward!