Jane Gardam: Robinsons Tochter, Aus dem Englischen von Isabel Bogdan, Hanser Verlag Berlin, Berlin 2020, 320 Seiten, €24,00, 978-3-446-26783-1
„ Ich kannte die Landschaften der Bücher – die Küsten von Salé, die urzeitlichen Wüsten von Wuthering Heights, die grünen Inseln der Karibik, all die herrlichen Ort der französischen Romanzen; die Lupenlandschaft von Gulliver. Ich kannte jeden Zentimeter Hinter den Spiegeln und die unterirdische Welt, die sich in Kaninchenlöchern verbirgt. Es waren die Landschaften auf Landkarten, die ich unwirklich fand – jedenfalls nutzlos, was die Literatur anging. Ich hatte mir Grandfathers Younghusbands Globus im Arbeitszimmer schon lang nicht mehr angesehen. Ich hatte eher Angst vor ihm.“
Polly Flints Mutter stirbt früh, ihr Vater, ein lebenslustiger Kapitän, liefert die sechsjährige Tochter bei den Schwestern der Mutter ab und stirbt ebenfalls. Es ist das Jahr 1904. Der Leser wird Pollys ereignisloses Leben in dem Gelben Haus in der Marsch am Meer bis in ihr hohes Alter verfolgen. Lang spannt sich der dramatische Bogen, immerhin wird Polly achtundachtzig Jahre alt, der auch tragische Zeitereignisse des 20. Jahrhunderts streift.
Weder Tante Mary, noch Tante Frances und schon gar nicht Mrs Woods, eine verknöcherte verarmte Bekannte, werden Polly je liebevoll berühren. Für das Kind bleiben nur die Bücher im Haus. Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ wird ihr Anker, ihre Lebenshilfe und ihr Trost. Jedes Jahr liest sie vom Schiffbrüchigen, seinem Lebenswillen und den Tagen mit Freitag. Auch Polly bringt diese Kraft auf ihrer einsamen Insel auf. Sie lernt von den Tanten ein bisschen Französisch, ein bisschen Deutsch, ein bisschen Allgemeinwissen. Sie wird nie mit Kindern intensiv spielen, nie in eine Schule gehen. Das einzige Kind, dass Polly näher kennenlernt ist, Stanley, der Neffe des speckigen Hausmädchens Charlotte. Mit Stanley tauscht sie ein paar Gedanken aus, staunt über seinen immensen Hunger, er vertilgt auch bereits angeschimmeltes Essen, und erlebt die große Trauer von Charlotte, als Stanley an einer Grippe, die Polly übersteht, stirbt. Da versteht sie erst, dass Stanley Charlottes unehelicher Sohn ist. Die gefühllose Mrs Woods kommandiert die in sich gekehrte Charlotte herum und wird von dieser zum ersten Mal richtig verbal angegriffen. Zwar haben die frommen Tanten nun Gewissensbisse, da sie Mutter und Sohn getrennt hatten, aber diese Gefühle halten nicht lang vor. Charlotte geht und die junge Alice kommt. Sie wird für Polly eine wichtige Partnerin im Haus. Für die Tanten ist das Kind kein Gesprächspartner, zumal Polly sich auch noch weigert konfirmiert zu werden. Als ihre Menstruation einsetzt, ist sie völlig hilflos.
Durch Pollys Sicht betrachtet der Leser diese triste Frauengesellschaft, die ab und zu nicht wie aus dem 20. Jahrhundert wirkt, sondern eher aus dem 18. Jahrhundert. Als Polly sechzehn wird, entflieht Tante Frances, natürlich als ehrbare Ehefrau, mit dem ortsansässigen Pastor nach Indien.
Tante Mary hat nicht mehr lang zu leben und auch Mrs Woods ist von Krankheit bezeichnet.
In dieser traurigen Lage lernt Polly zum Glück Mr Thwaite, einen ehemaligen Verehrer oder auch Verwandten von Frances und Mary kennen. Ihr gesellschaftlicher Radius erweitert sich etwas, auch wenn sie als scheues junges auch armes Mädchen nicht die richtige Partie für die jungen Männer der Umgebung ist. Polly schwärmt ein bisschen für den angehenden Dichter Paul Treece und sie verliebt sich richtig in Theo Zeit, einen Juden und Deutschen.
Kurios sind die einzelnen Figuren zum Teil und erinnern an das Figurenensemble in Jane Austen Romanen, die Polly so gar nicht mag.
Nach dem Tod von Paul Treece, der im 1. Weltkrieg fällt und Theos schwärmerischer und auch körperlicher Zuneigung zu Polly und seinem abrupten Rückzug, steht die junge Frau an einem Scheidepunkt. Was soll sie aus ihrem Leben machen? Wovon soll sie leben? Mrs Woods stirbt und das Gelbe Haus benötigt Reparaturen. Die geerdete Alice reißt für die vergeistigte Polly, die immer mehr dem Whiskey zuspricht und so gar nichts kann außer lesen und fremde Sprachen sprechen, den Karren aus dem Dreck. Sie organisiert Logiergäste und Polly beginnt, ihr Lieblingsbuch von Defoe ins Deutsche und Französische zu übersetzen.
Durch Alice‘ Kraft beginnt Polly aus ihrem Kokon herauszutreten, sie unterrichtet Jungen in der neuen Schule und beginnt langsam ihrem Leben eine Struktur zu geben.
Am Ende wird auch sie wie ihre Tanten fremde Kinder aufnehmen, die aus Deutschland als Juden fliehen müssen. Es sind die Kinder von Theo, der eine Frau geheiratet hatte, der Familie nichts bedeutete.
Was für ein wunderbarer Roman! Bei Jane Gardam wechseln sich reflektierende Passagen mit erzählerischen Abschnitten ab. Eingebettet in die stille Natur spiegelt sich Pollys Leben und nimmt zum Ende hin so richtig Fahrt auf.