Samuel Benchetrit: Rimbaud und die Dinge des Herzens, übersetzt von Olaf Matthias Roth, Aufbau Verlag, Berlin 2011, 256 Seiten, €16,95, 978-3-351-03312-5

„Es kommt doch nicht darauf an, dass man ganz viele Bücher besitzt, sondern dass man sie liest!“

Der französische Autor, Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur Samuel Benchetrit kehrt in seinem ersten Roman in die eigene Kindheit in der Pariser Vorstadt zurück. Der zehnjährige Ich-Erzähler Charles Traoré, den alle Charly nennen, ist ein frecher Kerl. Er schreibt gern Aufsätze und obwohl die leicht verkommenen Wohntürme nach Schriftstellern und berühmten Künstlern benannt sich, ist ihm jeder Name fremd. Wer ist dieser Rimbaud? Charly klaut einfach in der Bibliothek ein Buch von dem Dichter und am Ende der Geschichte wird es ihn trösten und vielleicht auch seinen künftigen Weg bestimmen.
Samuel Benchetrits Erzählung umfasst einen Tag im Leben des Jungen. Am Morgen wird seine Mutter von der Polizei mitgenommen. Ursprünglich stammt sie aus Mali. Der Vater hat die Familie verlassen und behauptet in einem Brief, den Charly auswendig kennt, dass er in Mali Arbeit finden will und Geld schickt. Das ist die letzte Nachricht von ihm. Die Mutter vermutet, dass er wahrscheinlich längst wieder in Frankreich ist. Aber Charlys Mutter ist eine starke Frau. Sie kümmert sich um das alte Ehepaar Roland und bringt so die Familie durch. Henry, Charlys älterer Bruder, ist drogensüchtig. Warum, niemand kann es erklären. Ist er depressiv, übersensibel? Charly jedenfalls beobachtet, wie die Mutter, die er über alles liebt, abgeführt wird. Auf der Suche nach seinem Bruder erinnert sich Charly an vieles in seinem bisherigen Leben. Manchmal klingt er wie ein weiser alter Mann, ohne altklug zu sein, aber dann auch wieder wie ein kleiner Junge, der immer maßlos übertreiben muss. Charly kann immer sagen, wie spät es ist und er ist ein neugieriger Mensch, der sich über alles Gedanken macht.
Charlys Odyssee durch seinen Wohnbezirk zeichnet ein Bild von der Pariser Vorstadt, in der neben den heruntergekommenen Wohntürmen und den gefährlichen Ecken auch Einfamilienhäuser stehen. Hier wohnen die Kinder, die vielleicht wie Streber wirken, aber ebenso einsam sind wie ihre Mitschüler. Beim Bruder angekommen, ahnt dieser, dass die Mutter wahrscheinlich in Abschiebehaft sitzt, denn ihr Aufenthaltsstatus ist nicht geklärt. Der Vater hatte alle Papiere mitgenommen und die Mutter wollte die Dinge viel zu spät auf dem Amt klären.
Samuel Benchetrit lässt sein Ende offen. Seine literarische Hauptfigur agiert äußerst lebendig und überzeugend. Charly kann man als Leser nicht vergessen, denn für ihn werden die Worte und die Literatur genauso hilfreich sein, wie sie es für Samuel Benchetrit in seiner Kindheit waren. Das haben die beiden gemeinsam.