Ragnar Jónasson: Hulda, Aus dem Isländischen von Anika Wolff, btb Verlag, München 2025, 272 Seiten, €17,00, 978-3-442-76308-5

„Hulda wusste, warum sie so erschrocken war: Mit einem Mal standen alle Bewohner des Tals unter Mordverdacht. Bis dahin hatte es nur vage Hinweise darauf gegeben, dass irgendwer von ihnen mit einem Kindesraub zu tun hatte, direkt oder indirekt, vielleicht auch nur zufällig, doch nach der ersten Einschätzung des Arztes sah das nun ganz anders aus.“

Ein völlig abgeliebter und ausgefranster Teddybär wird in einem Anglerhaus weitab im Norden von Island gefunden und die Polizei in Reykjavík informiert. Als das Spielzeug ankommt, besteht kein Zweifel: Es ist der Teddy eines vor zwanzig Jahren verschwundenen Kindes. 1960 wurde das Baby von Atli und Emma aus ihrem Haus in Háagerdi zu Weihnachten entführt. Ein Alptraum für alle Beteiligten, denn nie gab es auch nur eine brauchbare Spur. Kriminalkommissarin Hulda Hermannsdóttir soll nun den Fall mit der jungen, eloquenten Polizistin Álfrún übernehmen. Die dreiunddreißigjährige Hulda, deren Name die Verborgene bedeutet, fühlt sich von ihrem Vorgesetzten Sölvi in ihrer Arbeit anerkannt, spürt aber auch, dass Álfrún trotz ihre Unerfahrenheit extrem selbstbewusst und fordernd ist. Zum anderen versteht sich Hulda mit ihrem Ehemann Jón, der nur noch arbeitet und mies gelaunt nach Hause kommt, nicht sonderlich gut. Am liebsten hätte er es, wenn seine Frau zu Hause bei ihrer gemeinsamen Tochter bleibt. Gut, dass Jón sich nun um sein Kind kümmern muss, wenn Hulda ihre Befragungen in Blöndudalur durchführt.
Vor der langen Reise konnte Hulda mit dem Vater des entführten Kindes, Atli, sprechen, der fest der Überzeugung ist, dass sein Sohn nicht mehr lebt. Durch den Verlust konnte Atli nicht mehr arbeiten und lebt in einem Haus, dass seine Schwiegereltern ihm zur Verfügung gestellt haben. Seine Frau Emma ist drei Jahre nach dem Verschwinden des Kindes an ihrer Drogensucht im Ausland verstorben. Hulda trifft vor Ort im Norden nun die vier Parteien, alle Nachbarn, denen das Anglerhaus gehört. Sie bezahlen María, die das Haus reinigt und auch den Teddy hinter dem Kühlschrank gefunden hatte. Zwischen ihr und Kári, bei dem die Ermittlerinnen auch wohnen, gibt es einen jahrelangen Streit. Kaum angekommen geht ein heftiger Sturm über das dünn besiedelte Tal hinweg und sorgt dafür, dass der Storm ausfällt. Hulda wird das Gefühl nicht los, dass sie von allen Befragten auf die eine oder andere Art belogen wird. Als dann auch noch im Anglerhaus eingebrochen und danach einer der Besitzer des Anglerhauses getötet wird, weiß Hulda, dass sie auf der richtigen Spur ist.
Wenn der entführte Junge doch noch leben sollte, wer könnte es sein? Ist es Káris jüngster Sohn Orri, der mit seinen Alkohol- und Drogenprobleme so aus der Art schlägt? Und warum haben Atlis Schwiegereltern fünf Jahre nach dem Tod ihres Enkels ein schickes Sommerhaus im Tal gekauft? Ist das wirklich Zufall? Erst als der Vater des Jungen, Atli, aus Reykjavík zur Anreise in den Norden gezwungen wird, kommt Licht in diesen undurchsichtigen Fall.

Zu Beginn ist die Erzählweise des Romans leicht unbeholfen und hölzern, wenn es um Huldas Gedankenströme rund um ihre Arbeit, ihre Hoffnung auf eine Beförderung und ihre privaten Probleme geht. Erst zur Mitte hin nimmt die Handlung insbesondere durch die Dialoge Fahrt auf und fesselt dann die Lesenden wirklich, die von den Wendungen in der Geschichte überrascht sein werden.
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