Bettina Obrecht: Opferland – Wie die anderen dich kaputt machen, cbj Verlag, München 2014, 286 Seiten, €7,99, 978-3-570-40248-1
„Die anderen wollten mich als Opfer haben, sie waren in der Mehrheit und die Lehrer gaben ihnen in der Regel recht. Die Lehrer hätten es aufhalten müssen. … Aber jetzt ist etwas anders geworden. Vielleicht liegt es nur daran, dass ich älter bin, bald erwachsen, nicht mehr der hilflose kleine Junge von früher.“
Cedric hat viel zu lange Haare für einen Jungen, er weint schnell, mag keinen Fußball und ist ein kluges Kind. Als die Eltern aufs Land ziehen und Cedric in die neue Klasse kommt, beginnt ein langer Leidensweg, den man niemandem wünscht. Wie kann sich ein sensibles Kind wehren? Und was heißt es, anders zu sein? Andere Interessen zu haben oder andere Ideen? Cedric will sich nicht mit seinen Mitschülern prügeln, obwohl der Vater ihm suggeriert, das er ihn verstehen könnte. Der sportliche, allseits beliebte Marvin aus Cedrics Klasse hetzt die anderen gegen den Neuen auf. Cedrics Eltern beobachten immer beunruhigter die aggressive Haltung gegen ihr Kind. Sie stehen hinter Cedric, auch wenn dieser anfängt, sich selbst an allem die Schuld zu geben. Cedric wird im Unterricht ignoriert und seine Fähigkeiten werden nicht erkannt. Gemeine Gerüchte werden verbreitet und Cedric kann sich nur mit Schimpfwörtern, die im Laufe der Zeit immer heftiger werden, und lautem Geschrei wehren. Empörte Anrufe der Lehrerinnen, Vorverurteilungen, ein Heft, extra für Cedric, um seine „Missetaten“ zu notieren, und die vehemente Ablehnung der Mitschüler begleiten den qualvollen Schulalltag des Jungen.
Doch warum will niemand den wahren Cedric kennenlernen? Ist er für die Lehrerinnen in der Grundschule wirklich so ein Problem, dass sie in Gegenwart der Eltern behaupten, der Junge sei nicht normal, ja behindert, sogar gemeingefährlich und er bräuchte endlich ärztliche Hilfe? Eine Psychologin und später eine Sozialarbeiterin erkennen die Ursachen für Cedrics wütendes Verhalten. Ihr intervenieren jedoch akzeptieren die selbstgerechten Lehrer nicht.
Als Cedric die Schule wechselt holt ihn die Vergangenheit wieder ein. Das Martyrium setzt sich fort. Jetzt hat er zwar einen stillen Freund gefunden, aber dieser wagt es nicht in der Schule für ihn einzutreten. Cedric redet kaum noch, fällt in seinen schulischen Leistungen ab, klagt über Bauch- und Kopfschmerzen. Cedrics aufgewühlte Eltern führen einen sinnlosen Kampf gegen Pädagogen, die gemobbte Kinder allein lassen.
Warum passiert das gerade diesem Jungen und nicht seiner jüngeren Schwester Kayla, die unbeschwert in die Schule geht, die ihr Bruder als Gefängnis empfindet?
Cedric, der Erzähler, fragt sich das immer wieder. Der Leser hingegen fragt sich, wie kann es sein, dass Mitschüler und vor allem Lehrer so ignorant und mitleidlos sind.
An all diese Demütigungen seiner Kindheit erinnert sich der 16-jährige Cedric in Rückblenden als in seiner neuen Schule in der Film-AG das Thema Mobbing aufkommt. Als Lars ihn dann aus Spaß auch noch „Opfer“ nennt, denn Cedric soll die Hauptrolle spielen, rastet der Jugendliche aus und schlägt Lars nieder. Niemand weiß etwas über Cedric, der gut mit Sinja befreundet ist. Jetzt wohnt er bei Freddy und Bine und geht in eine Schule weit ab von seinem Elternhaus. Mit diesem Schlag gegen einen Mitschüler jedoch beginnt für Cedric eine weitere Tortour, denn Lars versucht nun über Facebook, Cedric ist kein User, etwas über die Vergangenheit seines Mitschülers herauszubekommen.
Als Kayla dann auch noch ihr erstes Date mit Marvin hat, ist Cedric am Ende. Normal sein wie die anderen, das wünscht sich Cedric aus tiefster Seele. Er will nicht auffallen und so schnell wie möglich die Schule verlassen. Seine Gespenster aus der Vergangenheit holen ihn ein und er kann nichts dagegen unternehmen.
Der Jugendroman „Opferland“ ist keine leichte Lektüre. Besonders in den Passagen, in denen Cedric sich an seine Schulzeit in der Grund- und später Gesamtschule erinnert, spürt man beim Lesen die Ohnmacht des Kindes gegen die gnaden- wie erbarmungslose Gruppendynamik und vor allem die Unfähigkeit und Gleichgültigkeit der sogenannten Pädagogen. In dieser Situation keimt in Cedric nicht nur einmal der Gedanke an Selbstmord. Nie zweifeln die hilflosen Eltern an Cedric, nie versuchen sie ihr Kind zu verbiegen, damit es im Strom der Masse funktioniert. Auch Cedric selbst hat gelernt wegzusehen, wenn er jüngere Kinder auf dem Schulhof in Bedrängnis sieht. In dieser Geschichte wird er handeln, denn er weiß, nur Reden allein bringt im Endeffekt gar nichts.
Ein Buch, dass den Leser, wenn er sich auf Cedrics Geschichte einlässt, noch lang beschäftigen wird. Sehr empfehlenswert – besonders als Schullektüre.
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