Philippe Djian: Oh … , Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz, Diogenes Verlag, Zürich 2014, 231 Seiten, €21,90, 978-3-257-06904-4
„ Das Schlimmste ist, tatenlos zuzusehen, wie die Katastrophe hereinbricht. Das man es wusste, aber nichts tun konnte.“
In einem Moment der Unachtsamkeit, obwohl die 46-jährige Michéle immer alles im Blick hat, wird die erfolgreiche Filmproduzentin von einem maskierten Mann in ihrem eigenen Haus überfallen und vergewaltigt. Sie schiebt die Erinnerung an den Abend einfach von sich weg, ignoriert ihre Ängste und geht ohne polizeiliche Anzeige zur Tagesordnung über. Michéle, so scheint es, hat ein hartes Herz, denn sie ist durch eine extreme Erfahrung in ihrer Jugend gewohnt, von wildfremden Menschen angegriffen zu werden. Schuld an diesen Attacken ist die Gewalttat ihres Vaters gegen Kinder. Seit dreißig Jahren sitzt er dafür im Gefängnis. Michéles lebensfrohe Mutter will unbedingt, dass die Tochter den Vater besucht. Aber sie ist konsequent in ihrer erbitterten Ablehnung.
Als dann unverschämte Mails eintreffen und der Vergewaltiger, trotz neuen Schlössern, sich erneut im Haus aufhält, weiht Michéle ihren Ex-Mann Richard und ihre Freundin Anna, mit ihr zusammen hat Michéle die Produktionsfirma gegründet, ein und spricht über die demütigenden Geschehnisse.
Das Eindringen der Gewalt in Michéles Privatsphäre belastet sie zunehmend, hinzu kommen die Sorgen mit ihrem vierundzwanzigjährigen Sohn Vincent, der mit der schwangeren Josie zusammenziehen will. Allerdings ist die extrem dicke Josie, die nur noch isst und vor dem Fernseher hockt, Michéle äußerst unsympathisch, denn sie wird nicht Vincents Kind austragen. Doch Vincent ist arbeitslos und seine Mutter sieht sich genötigt, für die neue Wohnung zu bürgen.
Alles entweicht Michéle aus den Händen, sie hat die Dinge nicht mehr unter Kontrolle in einer Zeit, in der sowieso nichts mehr in der Gesellschaft sicher ist.
Michéle mutmaßt, dass der Täter eventuell Rachegedanken hegt, denn Michéle musste Drehbuchautoren und ihre Arbeiten heftig kritisieren und ablehnen. Diesen Konflikt trägt sie auch mit ihrem Ex-Mann aus, der ihr wieder ein Drehbuch aufdrängt, das sie jedoch als Produzentin nicht protegieren kann. Als Michéle den neuen Nachbarn Patrick und seine religiöse Frau kennenlernt, lädt sie beide zu einem gemeinsamen Essen mit ihrer Familie und Freunden ein. Patrick kommt und beginnt mit Michéle zu flirten. Annas Mann, Robert, beobachtet die beiden. Er ist seit Jahren Michéles Liebhaber. Philippe Djians Hauptfigur ist einerseits erfolgreich im Beruf, andererseits eine widersprüchlich handelnde Figur, die durchaus dafür sorgt, dass es ihr gut geht. Sie liebt die Männer, aber sie will sich nicht mehr binden.
„Alleinsein ist das schönste Geschenk der Welt, die einzige Zuflucht.“In all dem Gefühlschaos, dass Michéle durchleben muss, erkennt sie, wer ihr Vergewaltiger ist. Ein gefährliches Spiel fängt an, denn sie beginnt sich den dunklen Gefühlen des gewaltsamen Sex langsam hinzugeben, bis es zur Katastrophe kommt.
Atemberaubend unterhaltsam und tiefgründig liest sich diese Geschichte von einer gestandenen Frau, die ihre Fantasien, von denen sie bisher nichts ahnte, auslebt. Allerdings stürmen auf Michéle zu viele Konflikte ein, die kaum zu bewältigen sind, denn alles läuft aus dem Ufer. Ob es nun Freunde, Liebhaber oder Familienmitglieder sind, alle benötigen Michéles Zuspruch und Hilfe. Wie es ihr geht, interessiert so wirklich niemanden. Aber vielleicht ist es gerade so, das Leben, das Schicksal. Als starke Protagonistin wird Michéle ein Geheimnis mit in den Tod nehmen müssen, aber nur um ihre Familie und sich selbst zu schützen.
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