Ninni Schulman: Den Tod belauscht man nicht, Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024, 448 Seiten, €18,00, 978-3-455-01718-2

„Die Suche nach Mattias hatte so viele Geheimnisse zutage gefördert – Mord, Verschleierung, Betrug, verheimlichte Kinder, Erpressung. Würde die Gemeinde in diesem Sommer je wieder so sein wie früher?“

Die ehemalige Polizistin Ingrid Wolt hat drei Jahre in Hinseberg einem Frauengefängnis wegen versuchten Totschlags gesessen und alles verloren, ihre Tochter Annalena, ihre einstigen Kollegen und ihre Arbeit. Weit von Stockholm entfernt, versucht sie sich ein neues Leben aufzubauen, auch weit ab von ihrem Peiniger, ihrem Ehemann Kjell. Ihn hatte sie bei ihrer Flucht mit der Tochter aus der gemeinsamen Wohnung nach jahrelangen Demütigungen und häuslicher Gewalt angeschossen. Nie hatte Ingrid jemandem aus ihrem Familien- oder Freundeskreis, auch aus Scham, von ihrem Martyrium in ihrer Ehe erzählt, nichts dokumentiert.
Nun versucht sie im Sommer 1983 Kontakt zu ihrem sechsjährigen Kind, dass in einer Pflegefamilie wohnt, aufzunehmen. In der Nähe der Stadt Mora in einem kleinen Ort findet Ingrid mit Hilfe ihres Bruders ein Haus, das sie mietet. Hier ist vor einem Jahr der dreizehnjährige Mattias Holm verschwunden. Die Polizei hatte intensiv gesucht, kam dann aber zu dem Schluss, dass der Junge ertrunken sei.
Ninni Schulman erzählt die Geschichten von Ingrid, die schmerzvoll wieder in einen normalen Lebensalltag zurückfinden muss, und die von Mattias letztem Sommer parallel. Dadurch können sich die Lesenden, die somit einen Vorsprung vor der Ermittlerin haben, ein genaues Bild vom Alltag des Jungen und seinem engsten Freund Kaj machen. Ingrid findet keinen Job in der Gegend und beschließt, als Privatermittlerin tätig zu werden. Nur mit einer festen Arbeit kann sie das Sorgerecht für ihre Tochter erlangen. Solveig, Mattias Mutter, glaubt nicht, dass ihr Kind, dass immer Angst vor Wasser hatte, beim Baden zu Tode gekommen ist. Sie setzt sich gegen ihren sehr oft verbal aggressiven Mann, der nun bereits seit einem Jahr krankgeschrieben ist, durch und bittet Ingrid um ihre Hilfe.
Als diese dann ihren einstigen Kollegen Benny, zu dem sie ein gutes berufliches Verhältnis hatte, vor Ort trifft, kann sie auf Hilfe, aber auch Rückendeckung bei den Recherchen hoffen. Und Ingrid fällt vieles auf, was die Polizei übersehen hat. Sie weiß, dass ein Jungen vor dem Baden seine Sachen nicht ordentlich zusammenlegt. Und warum hätte er sein Fahrrad im Unterholz verstecken sollen? Sie spürt, dass Kaj nicht alles den Ermittlern damals erzählt hat, und dass zwischen den Jugendlichen Spannungen herrschten.
Mehrere Ereignisse im Sommer 1982 könnten für Mattias, der zu gern mit seinem Freund Kaj Leute belauscht und ihre Stimmen sogar mit seinem Kassettenrecorder aufgenommen hat, zum Verhängnis geworden sein. Und je mehr Vertrauen die Jugendlichen, die damals Kontakt zu dem Jungen hatten, zu Ingrid aufbauen, um so mehr Informationen gewinnt sie von diesem einen Tag im August, der wahrscheinlich Mattias letzter war.
Berührend fühlt sich die schwedische Autorin in ihre sehr unterschiedlichen Protagonisten ein, und zeichnet psychologisch genau ein Bild von einer Dorfgemeinschaft, die nach außen hin intakt scheint. Ingrid kämpft verzweifelt um ihre Tochter und zieht doch, ohne es zu wollen, die Aufmerksamkeit ihres Ex-Ehemannes auf sich, der geschworen hatte, sie zu töten. Nichts hat die ehemalige Polizistin verlernt. Mit Empathie und Einfühlungsvermögen geht sie ihrer Arbeit nach und legt unterschiedliche Motive für das Verschwinden des Jungen frei. Ohne die übliche detaillierte Darstellung von Polizeiarbeit vom Pathologen bis zum Forensiker oder Profiler, immerhin fehlen vor gut vierzig Jahren viele technische Mittel, wird Ingrid diesen spannenden wie tragischen Fall lösen.

Kritisch anzumerken ist, dass der Buchtitel leider zu reißerisch klingt und bei einer besseren Korrektur des Manuskriptes hätten sicher so einige Fehlerteufel beseitigt werden können.