Gabriela Gwisdek: Nachts kommt die Angst, Aufbau Verlag, TB, Berlin 2013, 308 Seiten, €9,99, 978-3-7466-2919-3
„Einige Sekunden verharrte sie bewegungslos, dann tat sie zaghaft einen Schritt nach vorn. Zeitgleich setzte auch das Geräusch ein, und wie schon in der vergangenen Nacht kam es vom Dachboden. Kein Zweifel, es waren unverkennbar Schritte, und sie hatte das Gefühl, das sie verstummten, wenn sie innehielt.“
Mitten im Septemberregen steht die 30-jährige Alexandra Fischer vor ihrem neuen Zuhause, einem heruntergekommenen, abgelegenen Haus unweit von Lunow, einem kleinen Dorf in Brandenburg. Eigentlich eine Katastrophe, wären da nicht doch drei renovierte leer geräumte Zimmer. Achtlos hat die Umzugsfirma die Möbel vor der Tür platziert, Bäume und Schrott umgeben das verfallene Anwesen, dessen Vormieter scheinbar fluchtartig, ohne ihre Sachen nachzuholen, den Ort verlassen haben. Zwar ist die Miete sagenhaft billig, aber Alexandra weiß nun auch, warum dieses Internetangebot ein Schnäppchen war.
Die Malerin mit den markanten roten Haaren, die sich nach enttäuschter Liebe ländliche Ruhe und den weiten, klärenden Blick über ausgedehnte Felder wünscht, um endlich wieder arbeiten zu können, musste bereits bei der Anreise eine vierstündige Pause hinnehmen. Ursache der Unterbrechung – der angebliche Freitod einer Frau, deren abgetrennter Kopf nicht nur die Zugreisenden schockiert. Auch Harris Zimmering, der „Dorfsheriff“, muss den grausigen Anblick und die Tatsache, dass im Umkreis der friedlichen Ortschaften mehrere Frauenmorde begangen wurden, verkraften. Hauptkommissar Schneider ermittelt in alle Richtungen und tappt hilflos im Dunkeln.
Alexandra richtet sich mehr oder weniger gemütlich, aber abenteuerlustig in ihrem neuen Zuhause ohne Festnetzanschluss und Handyverbindung ein, trifft überraschend auf zugängliche Dorfbewohner und gerät an Harris, der offensichtlich einen gewöhnungsbedürftigen Humor besitzt und viel Sympathie für die junge, und das stellt sich im Laufe der Handlung heraus, instabile, unglückliche Frau, die ihre Medikamente abgesetzt hat und nun möglicherweise immer größere Neurosen und Angstzustände entwickelt.
Doch sind es nur Sinnestäuschungen, die Alexandra immer mehr verunsichern oder hört sie tatsächlich seltsam beängstigende Geräusche auf dem Dachboden, als würde dort jemand hausen? Mehrere Wandspiegel und die Ansammlung von Frauenkleidern stimmen die junge Frau skeptisch. Bei aller Eigendynamik, die sich in alten knarzenden Gebäuden über die Jahre entwickelt, erscheint dieses Haus besonders schaurig bei Nacht zu sein. Eine gewagte, ja fast wahnsinnige Entscheidung hat Alexandra da getroffen, vom brodelnden Frankfurt am Main ins verschlafende Brandenburger Land zu ziehen. Geht es nur um einen Tapetenwechsel, ums Vergessen oder ist sie auf der Suche nach etwas anderem? Erlösung?
Als dann ein grausiger Frauenmord dem anderen folgt, der Täter zerschneidet den rothaarigen Opfern mit Vorliebe die Gesichter, fühlt sich Alexandra nicht mehr sicher in ihrer selbstgewählten Idylle. Harris hält sie, auch aus Frust über seinen penetrant unfreundlichen Vorgesetzten, über die Ermittlungen auf dem Laufenden. Er hat als dilettierender Ermittler bei allen Fehlern doch herausgefunden, wenn man die Fundorte der sechs Frauen mit einer Linie verbindet, ergibt sich ein Herz. Kaum zu glauben, dass ein romantischer Serienkiller unterwegs ist.
Im Visier der Ermittler sind nun die durch Indizien überführten Brüder Schumann, die sich gegenseitig ein Alibi geben. Außerdem ist Robert Schumann der eifersüchtige Freund eines Opfers. Harris und Schneider jedoch stehen unter Erfolgsdruck, wobei sie ahnen, dass die Inhaftierten unschuldig sind.
Bei der Suche nach dem Killer wird, und das kann nur tragisch enden, eine erneute Oderflut die Wahrheit ans Licht spülen.
Gabriela Gwisdek arbeitet geschickt mit allen genretypischen Elementen des Thrillers und hat einen aufwühlenden, sprachlich überzeugenden Roman mit viel Gespür für emotionale Feinheiten geschrieben. Alle Erwartungen, die sich mit der außergewöhnlichen, aber auch real nachvollziehbaren Lebenssituation ihrer Hauptfigur verbinden, werden nach und nach aufgelöst. Was bis zur letzten Seite auf höchstem Level erhalten bleibt, ist die Spannung. Wie in ihrem Debüt interessiert sich die Autorin für die unergründliche Psyche von Menschen und deren Taten, die durch Schicksalsschläge ausgelöst werden könnten. Das Besondere an Gabriela Gwisdeks Krimi ist die geniale Irreführung ihrer Leser, aber auch die detailreiche Beschreibung der Atmosphäre in der Dorfgemeinschaft und im geheimnisvollen Haus, das nicht nur die Mäuse und der Marder in Beschlag genommen haben. Immer bleiben ihre Figuren ambivalent, undurchsichtig, aber auch sympathisch wie widersprüchlich. Nah an Alexandras vertrauter Seite gibt der Leser sich im Laufe der Lektüre dem Trugschluss hin, er durchschaue vieles. Mag sein, denn jeden Adrenalinstoß spürt er beim Lesen wie die Hauptfigur in ihrem gespenstischen Haus und doch ist er bis zum Ende nie wirklich Herr der Situation.
Nichts für schwache Nerven, da wahnsinnig aufregend!
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