Guadalupe Nettel: Nach dem Winter, Aus dem Spanischen von Carola Fischer, Blessing Verlag, München 2018, 352 Seiten, €22,00, 978-3-89667-613-9
„Ich hatte schon von Cecilia geträumt, bevor ich ihr zum ersten Mal begegnet war. Ich stellte mir genau vor, welche Empfindungen ihre Nähe in mir auslösen würde, die sanfte Atmosphäre, die zwischen uns herrschen würde, ein Gefühl, das bis dahin kein Wesen aus Fleisch und Blut in mir hervorgerufen hatte.“
Bevor sich Cecilia und Claudio in Paris treffen, umkreist die mexikanische Autorin Guadalupe Nettel das Umfeld und die Vergangenheit ihrer beiden Hauptfiguren. Immer wieder im Wechsel der Perspektiven wird jeweils aus Cecilias und Claudios Sicht berichtet. Stammt Claudio aus Kuba, so kommt Cecilia aus Mexiko. Arbeitet er als Lektor in New York, so studiert sie in Paris und ist als Fremdsprachenassistentin tätig. Beide sind auf bestimmte Weise Menschen, die sich selbst genügen, die wenige persönliche Kontakte benötigen. Claudio zelebriert geradezu seine Einsamkeit. Niemand hat je seine Wohnung betreten. Die Nachbarn wissen, dass sie keinen Lärm machen dürfen. In einer fast pedantischen wie verschrobenen Art und Weise verbringt Claudio seine Tage. Er ist mit Ruth, einer fünfzehn Jahre älteren Frau zusammen, die allerhand Pharmaka schluckt und ihn in gute Restaurants ausführt. Leidenschaftslos erträgt er diese Beziehung. Allerdings spürt der Leser im Laufe der Geschichte, wie arrogant und hochnäsig Claudio eigentlich auf andere Menschen herabschaut. Er hält sich für einen tiefsinnigen Philosophen, einen Intellektuellen, der ein perfektes Leben führt.
Durch den Roman zieht sich eine gewisse Friedhofsmetaphorik, ob diese sich nun auf das Umfeld von Cecilia und Tom bezieht oder die klaustrophobische Stille in Claudios Wohnung. Cecilia versinkt ebenfalls in eine bestimmte Melancholie und Einsamkeit in den kalten Tagen in Paris. Es gibt Zeiten, in denen sie kaum die Wohnung, die sie durch günstige Umstände anmieten konnte, verlässt. Sie schaut auf einen berühmten Pariser Friedhof und verbringt ihre Zeit beim Lesen von Büchern und aus dem Fenster schauen. Verunsichert durch die Verrückten, die ihr in der französischen Metropole begegnen, zieht sie sich immer mehr zurück. Nur Tom, ihr Nachbar, scheint noch Kontakt zu ihr zu haben und Haydée, eine lebenslustige Kubanerin. Tom ist Italiener und Einkäufer für eine Buchhandlung. Auch für ihn sind die Bücher eine Wärmequelle, allerdings liest er erst Autoren, wenn sie schon lang auf dem Friedhof liegen und sich als moderne Klassiker entpuppen. Zwischen Cecilia und Tom entspinnt sich eine sanfte Liebe. Doch dann reist Tom nach Sizilien und Cecilia hört kaum etwas von ihm. Er scheint einfach aus ihrem Leben zu verschwinden.
Über Haydée, die gut mit Claudios verstorbener Freundin Susana bekannt war, lernen sich Claudio und Cecilia kennen. Er spürt ihre Anziehung auf ihn im ersten Moment. Sie benötigt ziemlich lang, um ihm näher zu kommen.
Beider Begegnungen, ob nun in Paris oder New York, werden nun so geschildert, dass der Leser erfahren kann, wie Claudio und Cecilia die gemeinsamen Tage deuten.
Claudio überhäuft Cecilia mit E-Mails, sie antwortet eher sporadisch. Sie suchen gemeinsam in Paris die Friedhöfe nach César Vallecho ab. Auch wenn Claudio Cecilia und ihre Schönheit idealisiert, beginnt auch Cecilia ihn zu mögen.
Allerdings vergisst Claudio seiner Freundin Ruth mitzuteilen, dass er sich einer neuen Frau zuwendet. Als Cecilia in New York ist, lernt sie einen ganz anderen Claudio kennen. Sie mag seine sterile Wohnung mit ihrer überkorrekten Ordnung nicht. Nichts kann man sehen, wenn man bei Claudio aus dem Fenster schaut. Cecilia wird abreisen, da sie ahnt, dass Claudio immer noch mit Ruth, die als eifersüchtige Geliebte einen Riesenterror veranstaltet, liiert ist.
Dann kehrt der erkrankte Tom zurück und Cecilia konzentriert sich wieder auf ihn. Auch Claudio verfällt in eine tiefe Krise und Depression.
Alle Figuren von Guadalupe Nettel leben außerhalb ihres Heimatlandes, sie lieben die Literatur und sind teils misanthropisch, teils depressiv oder schwer krank. Jede Figur gibt in ihren Selbstentäußerungen auch nur das preis, was sie erzählen möchte. Zwar schaut der Leser sozusagen in die Köpfe von Claudio und Cecilia und doch bleiben beide ihm fremd. Hätten sie sich wirklich lieben können, wenn Claudio nicht so unehrlich und feige gewesen wäre? Hätte sie ihn beeinflussen können, hätte er in ihr sich selbst gefunden? Alles bleibt offen, denn jeder kehrt in seine Leben auf der anderen Seite der Halbkugel zurück. Autobiographisch geprägt ist dieser Roman, auch die mexikanische Autorin wohnte in Paris gegenüber des berühmten Friedhofs.
In einem Interview erzählte sie, dass sie Tagebuchauszüge in die Handlung einbezogen hat und sich thematisch auf die unvollkommenen Schicksale und die punktuellen Glücksmomente in ihren Romanen konzentriert. Sie erhofft sich, dass sie mit dem Leser in einen gemeinsamen Resonanzraum treten kann und er sie versteht.
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