Moa Herngren: Scheidung, Aus dem Schwedischen von Katharina Marti, Kein & Aber, Zürich 2024, 399 Seiten, 978-3-0369-5032-7

„Sie überlegt, wie viele Paare wie sie und Niklas es wohl gibt. Paare, die die Geheimnisse des anderen Jahr für Jahr für sich behalten, sie nicht einmal mit den engsten Freunden teilen. Um einander zu schützen, und das Bild der Beziehung. Weniger, um die Fassade aufrechtzuerhalten, sondern als Liebesdienst. … Man schützt und erträgt sich gegenseitig aus Liebe.“

Bea ist um die fünfzig und plagt sich mit den Vorboten der Wechseljahre. Ihr Leben verläuft 2016 in ruhigen Bahnen, denn sie wohnt mit ihrem Mann Niklas und ihren sechzehnjährigen Zwillingen finanziell abgesichert, wie sie glaubt, in einer geräumigen Wohnung in einem guten Viertel in Stockholm. Endlich hat sie ihre äußerst teure Küche einbauen lassen, die italienischen Gartenmöbel bestellt und sie freut sich auf ihre Ferien bei den geliebten Schwiegereltern auf Gotland. Doch dann erfährt sie, dass Niklas, gestresst von seiner Oberarztstelle an einem privaten Krankenhaus, vergessen hat, die Tickets für die Autofähre zu besorgen. Der Streit um seine offensichtliche Weigerung sich am alltäglichen Leben der Familie, Bea arbeitet für ein geringes Einkommen beim Roten Kreuz, zu beteiligen, artet völlig aus. Niklas verschwindet, will mit Bea nicht mehr reden und fordert von ihr die Scheidung.
Moa Herngren erzählt im ersten Teil des Romans alles aus Beas Sicht. Sie beschreibt ihre Wut, ihre Hilflosigkeit und vor allem ihr Entsetzen, als sie erfahren muss, dass Niklas offensichtlich eine Beziehung mit der Nachbarin Maria begonnen hat.

„Bea will einfach nur, dass sie anfangen, miteinander zu reden. Wie sie es immer getan haben. Nicht diesen komischen Kriegszustand. Diese Feindseligkeit. Sie hat den Verdacht, dass Maria hinter den Kulissen die Fäden zieht, um Niklas an den Punkt zu bringen, an dem sie ihn haben will.“

Im zweiten Teil berichtet Niklas von den Geschehnissen ein Jahr früher und wie es dazu kam, dass er nun so unversöhnlich seiner Frau gegenüber handelt. Immerhin sind die beiden zweiunddreißig Jahre verheiratet. Kennengelernt haben sie sich über Jakob, den einstigen Freund von Niklas, der sich mit Anfang zwanzig das Leben genommen hat. Niklas ist, und das weiß er auch, für Bea der Fels in der Brandung, der Mensch, auf den sie sich immer verlassen kann. Aber Niklas ist auch derjenige, der, wenn es nicht nach Beas Vorstellungen geht, immer, um seinen Frieden zu haben, eingelenkt hat. Wenn er mit den Töchtern und Bea die Eltern in Gotland besucht, dann erwartet auch seine Mutter von ihm, dass er ihren Wünschen entspricht. So muss er alle möglichen Nachbarn und Bekannten als Arzt behandeln und Reparaturen am Haus erledigen. Bea und ihre Schwiegermutter verstehen sich bestens. Seine beiden Brüder scheinen da außen vor zu sein und hinzu kommt, dass sich Niklas von seinem ältesten Bruder auch noch viel Geld geborgt hatte, um die Wohnung in Stockholm zu finanzieren, wovon Bea nichts weiß. Eigentlich steht Niklas mit seinem einen Gehalt und den Ansprüchen der Familie das Wasser bis zum Hals. Seine neue, besser bezahlte Arbeit in der Klinik stresst ihn nur und Bea kontrolliert ihn am liebsten bei jedem Schritt, den er macht. Und Niklas fühlt sich, auch wenn er freigesprochen wurde, am Tod eines Kindes schuldig. Niklas hat eigentlich keine Ahnung mehr davon, wer er eigentlich ist und was er will. Mit Maria, die sich von ihrem Mann getrennt hat, findet er per Zufall eine Frau, die all diese Zweifel nicht als Midlife-Crisis abtut, ihm zuhört und ihn nicht dazu drängt, alles so zu belassen, wie es ist.

„Aber für Bea sind diese Küche und diese Wohnung auch der Inbegriff von allem, was sie liebt und was sie aufzubauen versucht hat. Der Mittelpunkt ihrer Familie. Das Fundament, das sie für unerschütterlich gehalten hatte und das ihr jetzt unter den Füßen weggerissen wird.“

Im dritten Teil prallen dann alle Konflikte ungebremst aufeinander. Bea muss sich eine neue Wohnung suchen, die Kinder wissen in ihrer Hilflosigkeit nicht, wie sie sich verhalten sollen und Bea unterstellt Maria, dass sie Niklas in all seinen für sie negativen Entscheidungen beeinflusst. Als Niklas dann Maria und die Mädchen zu Weihnachten mit nach Gotland nimmt, kommt es zum Eklat.
Die schwedische Autorin Moa Herngren erzählt von einer nach außen hin intakten Ehe und gleichzeitig von einer Befreiungsgeschichte, an deren Ende die Ehefrau alles verlieren wird. Konnte Niklas nie wirklich erkennen, was er eigentlich vom Leben wollte, so hat sich Bea in Abhängigkeiten begeben, die für sie bequem waren. Finanziell trägt sie im Alter die Konsequenzen, aber auch Niklas hat sich hoch verschuldet. Bei beiden hatte sich bei auftretenden Problemen ein Verhaltensmuster entwickelt, bei dem Bea, wenn es unangenehm wird, das Thema wechselt und Niklas einfach klein beigibt und sich immer mit Gedanken tröstet, alles muss für die Familie getan werden, entschuldigt. Am Ende ist er der rücksichtslose Egoist, sie die alleingelassene, einsame Ehefrau und Maria, die Frau, die eine Ehe zerstört hat. Doch schaut man genauer hin, dann wäre diese plakative Einschätzung völlig falsch, denn sie stimmt keineswegs und das macht die hohe, auch literarische Qualität dieses psychologisch fein gearbeiteten Romans und seiner ambivalent gezeichneten Figuren aus.
Die temporeiche Handlung jedenfalls fesselt von der ersten bis zur letzten Seite und jeder, der sich auf Bea und Niklas einlässt, bleibt in ihrem Bann, fällt keine Urteile und denkt noch lang später an die aufwühlende Lektüre.