Dörte Hansen: Mittagsstunde, Penguin Verlag, München 2018, 320 Seiten, €22,00, 978-3-328-60003-9

„Wat schall dat warrn? Das fragte Ingwer sich auch manchmal selbst. Er wusste nicht genau, warum er das hier machte. Und für wen. De Letzte Ölung? Jeder Satz ein Treffer. Der Alte konnte es noch immer.“

Ingwer, der Enkelsohn von Sönke und Ella Feddersen, lässt seine Arbeit als Archäologe in Kiel für ein Jahr ruhen und fährt nach Nordfriesland, ins Dorf Brinkebüll. Hier führen seine Großeltern einen Gasthof, der jedoch schon bessere Zeiten gesehen hat. Ab und zu kommen noch Leute, aber die Zugezogenen aus Berlin oder Hamburg interessieren sich nicht für den Dorfklatsch, die können ja nicht mal ordentlich grüßen und Plattdeutsch sprechen schon gar nicht. Seit der Feldbereinigung, der Zusammenlegung der Felder, der Modernisierung, dem Ausverkauf der Tiere, der Unkrautvernichtung im großen Stil und dem Bildungsdrang der Kinder, gehen die kleinen Dörfer mit ihren Traditionen, zu denen auch die Ruhezeit von zwölf bis zwei in der Mittagsstunde gehörte, unter. Im Zentrum des Dorfes wird die Eiche gefällt, der kleine Einkaufsladen schließt die Tore und das bäuerliche arbeitsreiche Leben verschwindet. Die moderne Landwirtschaft diente nun vielleicht den Menschen, den Tieren nicht, nicht den Störchen, den Schwalben, den Hasen oder Stichlingen.

Wie Kassandra läuft Marret, die leicht „verdreihte“ Tochter der Feddersens, durch die Landschaft und verkündet den „Ünnergang“. Viel zu jung wurde sie von einem Landvermesser, der sich im Dorf aufhielt, schwanger. Für Ingwer war sie eher die Schwester als die Mutter.

Immer im Wechsel der Perspektiven erzählt Dörte Hansen vom Untergang eines fiktiven Dorfes in Nordfriesland, einer Landschaft, in der die Autorin auch aufgewachsen ist. In der Gegenwart pflegt der Enkel die gebrechlichen Großeltern, zumal Ella schon leicht geistig umnachtet ist. In der Vergangenheit wird von Lehrer Steensen erzählt, der sich noch vehement gegen das Sprechen von Platt einsetzte, die Kinder nach seinem Ermessen schlug und vorgab, für Gerechtigkeit zu sorgen.

Da werden Kinder und Frauen geschlagen, und niemand zieht den prügelnden Mann zur Rechenschaft. Man mischt sich im Dorf nicht ein, steckt jedoch den drangsalierten Kindern eine Süßigkeit zu. Brinkebüll ist ein Ort, in dem man Heimatdichter wird oder Trinker. Hier lebt ein Menschenschlag, der kaum redet und wenn dann bloß kein Wort zu viel.

Da sich Marret um ihr Kind nicht kümmert, springt Ella ein und gibt dem Jungen, alles was er braucht.

Ingwers aktuelles Leben ist nicht gerade berauschend aufregend, denn so einiges liegt im Argen. Die berufliche Karriere des Achtundvierzigjährigen stagniert, er hört die melancholischen Songs von Neil Young, streitet sich mit seiner emotionslosen Lebensgefährtin Ragnhild, die mit ihm in gehobener Wohngemeinschaft, in der einst geerbten Villa, mit einem weiteren Bekannten zusammenwohnt. Für Ingwer fühlt es sich an, als sei er nie aus seiner Heimat richtig fortgekommen. Als würde es den Archäologen nicht geben. Den Wechsel zum Gymnasium hatte ihm der Großvater übel genommen. Wer hatte ihn damals gefragt, ob er Gastwirt und nebenher Bauer werden will? Söhne übernehmen den Hof des Vaters, so war es immer und so wird es nie wieder sein. Nicht mal anderthalb Generationen haben diesen Wandel hinbekommen.

Berührend liest sich dieser zweite Roman von Dörte Hansen, der vom unvermeidlichen Untergang der bäuerlichen Welt erzählt. Keine Frage, es ist ein „Herkunftsroman“, denn auch Ingwer kann seine Herkunft vom Dorf nicht verleugnen, wie seine Freundin Ragnhild aus der großbürgerlichen Gesellschaft. Mit einer Prise trockenen Humors, viel Wärme für die erfundenen Figuren und Liebe zum friesischen Land geschrieben entführen die Geschichten in eine Region, die stellvertretend für viele steht. Nach ihrem Debüt „Altes Land“ wieder ein absolut lesenswerter tiefgründiger Roman mit literarisch gutem Anspruch.