Karine Tuil: Menschliche Dinge, Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff, Claassen Verlag, Berlin 2020, 379 Seiten, €22,00, 978-3-54610002-1
„Claire blieb lange wie gelähmt am Tisch sitzen. Erst jetzt ging ihr die ganze Tragweite der Katastrophe auf. ‚Da ist ein Leben in die Brüche gegangen‘, sagte sie leise, ohne zu präzisieren, ob sie vom Leben ihres Sohnes oder von Mila Weizman sprach.“
Alles beginnt ziemlich harmlos und doch zieht sich durch die gesamte Handlung die Frage, wer übt in der französischen Gesellschaft eigentlich die Macht aus.
Der Leser schaut ins privilegierte Leben der in Paris lebenden erfolgreichen Familie Farel, die sich als eingeschworene, liebevolle und stabile Einheit präsentieren und es doch nicht sind. Jean Farel, bald siebzig Jahre alt, arbeitet als Politikjournalist erfolgreich bei Rundfunk und Fernsehen. Fast krankhaft sorgt er sich um seinen körperlichen Zustand und die Tatsache, dass das Alter ihn beschädigen könnte, raubt ihm den Schlaf. Er isst diszipliniert, treibt Sport und lässt doch neuerdings die Finger von Affären mit jüngeren Frauen, die ihm sonst so gelegen kamen. Der „wendige Kampfhahn“ setzt aufs Durchhalten. Neben seiner Frau Claire, einer erfolgreiche Autorin und Essayistin, lebt Jean auch noch mit einer seiner Mitarbeiterinnen zusammen. Die Journalistin Francoise Merle, fast so alt wie Jean, hat sich an dieses Leben im Schatten gewöhnt. Claire, Anfang vierzig, jedoch beginnt eine Beziehung mit Adam Wizman, einem verheirateten Juden und Lehrer für Französisch. Adam hat zwei Töchter und eine Frau, die sich immer mehr dem orthodoxen Judentum zuwendet. Jean hofft immer noch auf die Rückkehr von Claire und informiert auch Francoise nicht über den Auszug seiner Frau. Alexandre, einundzwanzig Jahre alt, ist der Sohn der Farels. Bereits als Dreijähriger zeigte er seine Intelligenz, konnte früh lesen und schreiben, wurde vom Vater zu Höchstleistungen angetrieben und studiert nun in den USA, in Stanford. Alexandre ist nach Paris gekommen, da der Vater eine hohe Auszeichnung erhält. Alle sollen dabei sein, die Noch-Ehefrau, der Sohn, die angesagte Prominenz.
Mit Informationen angereichert erzählt Karine Tuil aus verschiedenen Perspektiven von ihren Protagonisten. Jede ihrer Figuren trägt existentielle Konflikte mit sich aus. Alexandre hadert mit seiner letzten Liebe, einer gestandenen Frau, die sein Kind abgetrieben hat, und für ihn nicht mehr zu sprechen ist. Claire sieht sich nach einem Artikel über die tragischen Geschehnisse in der Silvesternacht in Köln öffentlichen Angriffen ausgesetzt, zumal sie die muslimischen Täter aus ihren religiös-gesellschaftlichen Verhältnissen heraus beurteilt hat. Jean wie Claire nutzen die sozialen Medien für sich, spüren aber auch den hasserfüllten Gegenwind. Jean hatte mit sechsundsiebzig einen leichten Schlaganfall, Claire hat ihren Brustkrebs überwunden. Doch nun steht die Ernennung zum Großoffizier der Ehrenlegion für Jean im Élysée-Palast an. Nach der Feier jedoch läuft alles aus dem Ruder.
Alexandre wird angeklagt, Mila, die Tochter von Adam Wizman vergewaltigt zu haben. Dabei hatte Claire Alexandre noch aufgefordert, Mila zur Party mit seinen Freunden mitzunehmen. Was ist in dieser Nacht aus dem Ruder gelaufen? Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Welche Drogen hatten die Partygänger eingeworfen? Klar ist, dass nun im Zuge der #MeToo-Debatte nichts unter den Teppich gekehrt werden kann. Adam trennt sich von Claire und steht fest an der Seite seiner völlig verschreckten achtzehnjährigen Tochter.
Entgegen den Vorstellungen des Anwalts von Alexandre wird es zum Prozess im Justizpalast kommen. Die Presse wird sich auf diesen Fall stürzen und Jeans Ängste um seinen Karriere werden geschürt. Gutachter kommen zu Wort, Aussagen und Plädoyers sind zu hören, jede Partei wird im Detail zu den Vorgängen in der Nacht Stellung beziehen. Offen jedoch bleibt, was wirklich geschehen ist. Diesen Raum lässt die Autorin, die sich intensiv mit Pariser Vergewaltigungsprozessen beschäftigt hat, frei. In der Figur der Claire spiegeln sich trotz aller Liebe und Verbundenheit zu ihrem Sohn die Zweifel darüber, was ihm vielleicht auch innerfamiliär unbewusst angetan wurde.
Signifikant ist, dass Jean noch während der Geschehnisse um seinen Sohn mit einer bedeutend jüngeren Frau noch einmal privat wie beruflich durchstarten wird. Claire jedoch zieht sich völlig aus der Öffentlichkeit zurück und bleibt eng an der Seite ihres Sohnes.
Bis zur letzten Seite umkreist Katerine Tuil eine Gesellschaft, in der Privilegien hart erkämpft werden. Schlüssige Antworten gibt die französische Autorin nicht und das ist klug.