Marco de Franchi: Das zweite Kind, Aus dem Italienischen von Verena von Koskull, List Verlag bei Ullstein Buchverlage, Berlin 2024, 668 Seiten, €16,99, 978-3-471-36081-1

„Diese Geschichte aus Blut und Folter war ihr unter die Haut und in den Kopf gekrochen. Sie würde nie mehr zum gewohnten Leben zurückkehren können, wenn sie nicht wenigstens versuchte zu begreifen, was sich hinter dieser unsinnigen Mordserie verbarg.“

Valentina Medici arbeitet für den Zentralen Operationsdienst der Staatspolizei, SCO, in Rom. Natürlich sind die Polizisten in der Toscana, ob nun in Pisa oder Volterra, nicht erfreut, wenn Valentina und der doch recht emphatielose Angelo Zucca auftauchen. Doch ein ungewöhnlicher Fall beschäftigt die beiden und ihren Vorgesetzten Falcone. Der zwölfjährige Fosco Agnelli wurde betäubt, entführt und konnte vor seinem Peiniger nackt entfliehen. Der Junge behauptet, dass in dem Wagen, in dem er gefangen gehalten wurde, noch ein nacktes Kind lag. Als dann erneut ein Junge, Andrea Venturi, verschwindet, geschieht auch noch ein brutaler Mord an seinem Vater. Die Ermittler in Volterra, allen voran Kommissariatsleiter Fabio Costa, erkennen gemeinsam mit Valentina, dass die beiden Jungen wie Zwillinge einander ähneln. Als die Polizei den ersten Verdächtigen, Guido Marchesi, aufgreifen, stellen sie fest, dass er auf seinem Computer kinderpornografische Bilder über die sozialen Medien vertreibt. Auch ein Bild von Andrea war dabei und so kommen die Ermittler auf die Spur der Kriminellen, die scheinbar völlig ohne Motiv Frauen und Kinder entführen. Marchesi weist, bevor er im Gefängnis getötet wird, der Polizei den Weg ins Darknet. Da der entführte Junge Fosco ein Papier in der Hand hatte, konnte ein Kunstexperte analysieren, was es einst war. Und die Ermittler stoßen auf Bilder von Caravaggio, einem Maler, der selbst als Mörder tituliert wurde und der wie kein anderer in seiner Kunst Schmerz ausdrücken konnte. Auf dem Gemälde „Die Musiker“ von 1597 erkennen sie in einem Musiker das Gesicht von Fosco und Andrea wieder. Und langsam entwickeln die Ermittler eine grausame Theorie, warum und wozu diese Menschen entführt wurden. Doch was ist wirklich mit ihnen geschehen? Wo sind ihre Leichen oder leben sie noch?
Auch das Gesicht von der verschwundenen Esther Kaimbacher entdecken die Ermittler im Bild „Judith und Holofernes“.
Marco de Franchi erzählt chronologisch von der peniblen Polizeiarbeit und baut so die Spannung auf, die in diesem Krimi bis zur letzten Seite jeden Lesenden in Atem hält. Ist Valentina Medici eine geradlinig agierende Person, so verhalten sich ihre männlichen Mitstreiter und Vorgesetzten eher destruktiv. Auch Fabio Costa ist eine widersprüchliche Figur mit einer zweifelhaften Vergangenheit.
Doch Costa und seine IT-Experten legen sich ins Zeug und entdecken bald Chats im Darknet, in denen sich Personen über „lebendige Bilder“, eventuell auch Snuff-Filme unterhalten.
Nach vielen Recherchen kommen die Ermittler einer Person mit einem dubiosen Lächeln im Gesicht auf die Spur. Danken müssen sie einem Obdachlosen, den die Polizisten eher unsanft behandelt haben. Aber er hat in Bozen Esther Kaimbacher fotografiert, als sie von dem Täter scheinbar angetrunken weggeschleppt wird. Ein Riesenschritt für die Ermittler. Doch bei der Ergreifung des skrupellosen Täters wird Fabio Costa schwer verletzt. Alle atmen auf und der Fall scheint gelöst. Valentina soll noch die restlichen Formalitäten klären und dann nach Rom zurückkehren. Doch die kluge Frau ahnt, dass der Täter mit seinen nekrophilen Neigungen Hintermänner hat oder sogar von diesen gesteuert wurde. Denn der Mörder hat kein Interesse an Kunst und bevorzugt als einstiger Chemiker eher die Bearbeitung, die Plastination der Leichen. Und auch das treibt Valentina um. Wo sind die Leichen und vor allem, wie viele Menschen mussten sterben? Valentinas Vorgesetzter Falcone hat kein Interesse an der Weiterführung der Arbeit und als die Polizistin eine vielversprechende Spur findet, boykottieren die Polizisten vor Ort die Observierung. Als Valentina verschwindet, muss Costa endlich wieder handeln.

Aufregender, gut gebauter Thriller voller ungeahnter Wendungen und Abgründe, interessanter Figuren und Kritik an der italienischen Polizeiarbeit und unmotivierte Beamte, die sich eher um Kompetenzrangeleien als Ermittlungsarbeit kümmern.