Nicola Karlsson: Licht über dem Wedding, Piper Verlag, München 2019, 320 Seiten, €20,00, 978-3-492-05941-1
„Sie fing an zu schluchzen. Warum war Fee verschwunden? Sie riss den Mund auf und kreischte schrill ins Leere. Wollte die Realität abwenden. Wollte ein anderes Leben. Wollte ihr altes Leben. Ihre Mutter. Wollte die nölende Fee zurück.“
In nur wenigen Sätzen schildert Nicola Karlsson den Gemütszustand dreier Menschen, die im Focus des Romans stehen und in einem sogenannten Brennpunktviertel wohnen. Alle leben in prekären Verhältnissen in einem Hochhaus im Wedding, dem einstigen Arbeiterbezirk zwischen dem angesagten Prenzlauer Berg der zugezogenen Öko-Schwaben und Berlin – Mitte, einer Mischung aus architektonischem Ostcharme und Schinkelbauten plus Schloßneubau. Die einundzwanzigjährige Hannah Hoch, immer auf der Suche nach der idealen Location, hadert mit ihrem Aussehen, mit ihrem Leben, ihrer pausenlosen Selbstdarstellung. Modehäuser schicken ihr die Klamotten, die sie dann als Bloggerin möglichst vor interessantem Hintergrund präsentieren soll. Ihre Eltern glauben, sie studiert. Ihre kranke und verbitterte Mutter durchschaut die Lügen und beschimpft die hilflose Tochter wie eh und je. Hannah gerät in einen Strudel der Depressionen, aus dem sie sich einfach nicht mehr befreien kann. Ihre einzige und beste Freundin Fee, mit der sie eine Wohnung teilt, kehrt ihr den Rücken zu, aber Hannah ist auch verärgert darüber, dass Fee ihre Brasilienreise nicht mit ihr, sondern mit ihrem neuen Freund Moritz gemacht hat. Ohne klärende Worte geraten die beiden Frauen wie die Furien aneinander und ab einem bestimmten Moment kann nichts mehr so sein wie früher.
Wolf Hermann und seine Tochter Agnes leben seit Jahren in unhaltbaren Verhältnissen. Erst am Ende erfährt der Leser, dass der schwere Alkoholiker Wolf eigentlich gar nicht der biologische Vater von Agnes ist. Agnes‘ Mutter hat die Familie verlassen und nun hält Wolf einen Brief vom Jugendamt in Händen und es soll eine Neuregelung des Sorgerechtes geben. Ohne Arbeit und am liebsten in der Eckkneipe verliert Wolf immer mehr an Boden unter den Füßen. Nicht nur einmal hat er seine Tochter geschlagen. Auch wenn er einem kleinen Vogel, der aus dem Nest gefallen ist, das Leben retten möchte, sein eigenes Kind bekommt er nicht in den Griff. Schon immer hat er sich Sorgen gemacht, wenn Agnes hysterisch schreiend ihren Willen durchgesetzt hat. Mit den Jahren, Agnes ist nun fünfzehn, versucht sie Konflikte mit Gewalt zu lösen. Zu schnell schlägt das Mädchen zu oder zückt ein Messer. Die verwahrloste Umgebung, in der es an jeder Ecke nach Pisse riecht oder Obdachlose lungern, hat sich irgendwie auch auf die Psyche der Menschen übertragen.
Agnes geht mit ihrem langjährigen Freund Rico ruppig und brutal um, er mit ihr nicht minder. Als sie dreizehn war, hatte sie ihren ersten Sex und nun mit fünfzehn glaubt sie, sie sei schwanger.
Rico flippt aus, aber Agnes wünscht sich etwas, dass nur zu ihr gehört.
Rücksichtlos realistisch, ohne jegliche Andeutung von Ironie, schonungslos und bis an die Grenze des Erträglichen ehrlich schreibt Nicola Karlsson über Menschen, die keine Auswege mehr sehen, um sich zu helfen. Alkohol, Drogen, exzessiver Sex und eine unbändige Wut begleiten ihre Tage in einer durchaus gnadenlosen Stadt und nichts Menschliches ist ihnen fremd.
Will man diesen Leuten aus dem Wedding begegnen? Sicher nicht, nicht den Saufkumpanen von Wolf, nicht der traurigen Selbstdarstellerin und nicht der aggressiven, unbändigen Jugendlichen, die wahrscheinlich von der Schule fliegen wird und ihren MSA nicht schafft.
Und doch spürt man, dass Nicola Karlsson nicht anders kann, als die Geschichten und Schicksale dieser Menschen aufzuschreiben, ohne sie zu bewerten. Wir spüren ihren Gedanken nach, die Vitalität, die sie antreibt und verstehen sie vielleicht ein bisschen besser.
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