Gary Shteyngart: Kleiner Versager, Aus dem Englischen von Mayela Gerhart, Rowohlt Verlag, Reinbek / Hamburg 2015, 480 Seiten, €22,95, 978-3-498-06432-7

„1979. Aus der sowjetischen Kindheit nach Amerika zu kommen ist, als würde man von einer monochromen Klippe in ein knatschbuntes Farbband springen.“

Mit vierzig Jahren schreibt der Autor Gary, eigentlich Igor, Shteyngart seine Biografie, eine ungewöhnliche Geschichte über seinen Weg von der UdSSR in die USA als russischer Jude. Mit fünf Jahren reist er zum Feind. Seine Eltern trauen es dem Kind erst zu sagen, als sie bereits Leningrad verlassen haben. Über Berlin-Schönefeld, Wien ( Hier erhält Gary endlich ein wirksames Mittel gegen sein Asthma.) und Rom reist die vierköpfige Familie dank Jimmy Carters Weizendeal mit der Sowjetunion in die Neue Welt. Garys Familie siedelt sich in New York, genauer Queens, an, weil sie laut Familienzusammenführung den Verwandten, der „Wolfsbande“ beim Verkauf der Ledermäntel helfen sollen. Zwei Worte, die Gary nicht mag, Verwandtschaft und Scheidung. Der Junge lebt immer in der Angst, die so unterschiedlichen Eltern, der Vater stammt aus einer Arbeiterfamilie, die Mutter aus einer bildungsbürgerlichen Familie, könnten sich trennen. Zwischen den Eltern herrscht oft ein ungehobelter Ton, es wird geschrien, geflucht und Gary wird mit Schlägen, die als Liebe angesehen werden, erzogen. Failurtschik bedeutet halb englisch, halb russisch „Kleiner Versager“ und ist ein Spitzname, den die Mutter ihrem einzigen Kind gibt. Dabei sind die Erwartungen an die Migrantenkinder enorm hoch. Sie müssen in der neuen Heimat aufsteigen, besser sein, mindestens Arzt oder Anwalt werden.

Zwischen Gegenwart und Erzählungen über die bittere Vergangenheit der jüdischen Familienmitglieder pendelnd berichtet Gary Shteyngart nun vom armen Leben der Shteyngarts, das weiterhin durch Angst vor Autoritäten bestimmt ist und dem Ehrgeiz der Mutter. Von der Großmutter Polja verhätschelt durchlebt Gary keine wunderbare Kindheit, ganz im Gegenteil. Seine Aufzeichnungen jedoch schwanken zwischen tragikomischen Schilderungen und der Wahrheit hinter dem Erzählten. Der Gang in die Solomon-Schlechter-Schule bleibt für den sensiblen Jungen, der sich in die russische Sprache zurückzieht, eine Tortur. Garys Kindheit begleiten Ängste vor den Schwarzen, Streitereien der Eltern, maßloser Sparsinn, um endlich das ersehnte Haus zu besitzen, Filme wie „E.T.“ oder Fernsehserien wie „Dallas“. Gary will mitreden, verliert endlich seinen Akzent und lernt schnell, dass man nicht über Romane von Tschechow mit seinen Klassenkameraden sprechen kann. In Jonathan, einem echten amerikanischen Jungen, findet er einen ersten Freund, mit dem er die geliebten Computerspiele spielen kann. Er beginnt einen fantastischen Roman zu schreiben und sich langsam von den Eltern und ihren Rote-Beete-Salaten abzugrenzen.

Gary nimmt vieles mit Humor und schreibt hemmungslos offen über seine Familie, sein Innenleben und sich selbst, die ersten Mädchenbekanntschaften, die Suche nach eigenen beruflichen Wegen und seine Sehnsucht im Zentrum von Manhattan zu leben. Und Gary kehrt mit den Eltern zu Besuch nach Leningrad, in ein völlig neues Russland, zurück.

„Die Vergangenheit verfolgt uns. Ob in Queens oder Manhattan, sie überschattet uns, boxt uns in den Bauch. Ich bin klein, und mein Vater ist groß. Aber die Vergangenheit – die ist am größten.“