Barbara Vine: Kindes Kind, Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann, Diogenes Verlag, Zürich 2015, 386 Seiten, €24,00, 978-3-257-06946-4

„Wenn es ihnen gelang, die Verantwortung für ihre Tochter loszuwerden, die Last auf Johns Schultern abzuladen, würde vielleicht die dumpfe Zufriedenheit zurückkehren, die sie Glück nannten.“

Die Autorin, die als Ruth Rendell ausgeklügelte Krimis schrieb und als Barbara Vine sich eher psychologisch interessanten Geschichten widmete, hat für diesen Roman ein Buch im Buch geschrieben. In der Rahmenhandlung lernt der Leser Grace, eine gebildete junge Frau, die gerade ihre Dissertation über die Geschichte alleinerziehender Frauen im 18. und 19. Jahrhundert verfasst, kennen. Aus ihrer Sicht wird die Handlung erzählt. Sie erhält von Toby Greenwell, dem Sohn eines bekannten Autors, ein unveröffentlichtes Buch. Mit Andrew, ihrem schwulen Bruder, zieht Grace in ein geerbtes Haus und arbeitet intensiv an ihrer Doktorarbeit. Als Andrews neuer Freund, James, den Grace aufgrund seiner arroganten und oftmals gereizten Art nicht mag, auch im Haus wohnen soll, ist Grace nicht begeistert. Ein brutaler, tödlicher Überfall auf einen schwulen Mann, bei dem Andrew und James Zeugen wurden, wirft James völlig aus der Bahn. Als Autor kann er nicht mehr schreiben. Grace und James kommen sich näher und Grace entdeckt, dass sie schwanger ist. Mit ihrer Entscheidung, das Kind zu behalten, verändert sich ihr bisher so einvernehmliches Verhältnis zu Andrew. Er zieht aus und Grace, deren Doktorarbeit fast fertig ist, greift endlich zu Greenwells unveröffentlichtem Roman „Kindes Kind“, eine offensichtlich autobiografische Geschichte, die vor Jahren nicht erscheinen konnte.

Im Mittelpunkt von „Kindes Kind“ stehen ebenfalls ein Geschwisterpaar, eine alleinerziehende Mutter und eine Beziehung zwischen homosexuellen Männern.
Was wie aus einer vergangenen Zeit klingt, die Geschichte spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gewinnt heute wieder an unerfreulicher Aktualität, wenn man bedenkt, wie Homophobie weltweit wieder um sich greift.
Die fünfzehnjährige Maud, Tochter aus streng gläubigem Haus, wird schwanger. Der Sex war kein Akt der Liebe, eher ein ausprobieren und so informiert Maud den Kindesvater auch nicht. Von der Familie zutiefst beleidigt, schwört Maud, ihren Vater nie wiederzusehen. Er drohte ihr im ersten Moment des Schocks mit einem Erziehungsheim und Adoption ihres Kindes. Für die lieblose Familie ist die öffentliche Schande eine größere Sorge als die Situation der Tochter. John, Mauds Bruder, ist gerade dabei, eine Stelle als Lehrer in Dartcombe anzutreten, als die Geschehnisse in Bristol hohe Wellen schlagen. John ist schwul, aber niemand darf davon Kenntnis haben. Er beschließt seine Schwester, zu der er immer ein gutes Verhältnis hatte, mitzunehmen und sie als seine Frau in dem Ort vorzustellen. Misstrauisch geht Maud auf den Deal, sie hat gar keine Wahl, ein. Als sie erfährt, warum John nie eine Familie gründen wird, zeigt sie dem Bruder offen ihre Ablehnung. Als John Maud von seinem Freund Bertil erzählt, wendet sie sich von ihm ab. Maud, in keinster Weise John wirklich dankbar oder verständnisvoll, bekommt eine Tochter, die sie Hope nennt. Die junge Frau entwickelt sich zu einer missmutigen, weltabgewandten und unfreundlichen Person, die fast lebensunfähig immer jemanden benötigt, der ihr hilft. Maud liebt ihre Tochter Hope, aber sie verbittert mit den Jahren und gefällt sich in ihrem Selbstmitleid und ihrer Außenseiterposition. Johns Situation wird immer auswegloser, denn er möchte mit Bertil, einem zwar attraktiven mit allerdings wenigen guten Eigenschaften ausgestatteten Mann, zusammen sein.
Die Kosten für die Kleinfamilie kann John kaum aufbringen und dann beginnt auch noch Bertil, John um Geld zu erpressen.
Die Handlung eskaliert als John Bertil aufsucht, um ihn zur Rede zu stellen.

Barbara Vine konstruiert einen spannenden, sozialgeschichtlich genauen Roman mit einer Parallelgeschichte zu unterschiedlichen Zeiten. Nicht mal in den 1950er Jahren hätte man „Kindes Kind“ veröffentlichen können. Mag Grace als alleinerziehende Mutter heute nicht mehr mit den Problemen von Maud konfrontiert sein, die Geschichte über das schwule Leben der Männer bleibt bis heute konfliktbeladen.