Irmgard Keun: Kind aller Länder, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 244 Seiten, €17,99, 978-3-462-04897-1

„Mein Vater lügt oft, damit Ruhe ist. Darüber sind wir ganz froh. Manchmal zaubert er auch Wunder, dann wird alles wahr.“

1938: Eine Familie aus Frankfurt am Main auf der Flucht in Europa. Ein Schriftsteller, seine einst attraktive Frau und seine zehnjährige Tochter Kully reisen von einem Ort zum nächsten, von Ostende nach Brüssel, nach Amsterdam, in die USA. Sie wohnen nicht in Notunterkünften, aber dafür in teuren Hotels, obwohl sie kaum über Geld verfügen, um ihre Rechnungen zu bezahlen.

Von diesem Existenzkampf, den der Vater mit all seinem Charme, fetten Lügen und vor allem überbordender Lebenslust absolviert, erzählt das Kind Kully aus seiner Sicht. Sie kann den tiefen Kummer der Mutter über das unsichere Leben nicht ermessen, denn Kully hat viel Spaß auf den Reisen. Sie lernt, meist von den Kindern, alle möglichen Sprachen kennen, sie muss nicht in die Schule gehen und sie beobachtet die Erwachsenen. Sie erzählt von dem Unmut der Großmutter in Köln, von den Beziehungen des Vaters zu anderen Frauen und den Tricks der Mutter, mit der Einsamkeit und Geldnot klarzukommen. Da wird von Manuskripten fabuliert, die es gar nicht gibt, von der Angst vor dem Krieg und der vorbehaltlosen Liebe zum Vater, der alles richten wird.

Wenn der Vater, der als Schriftsteller in Deutschland nicht mehr veröffentlichen darf, auf Geldborgertour ist, müssen Mutter und Tochter darben, denn sie können keine Rechnungen zahlen und müssen in den Hotels auf Tauchstation gehen. Am glücklichsten ist die Familie, wenn sie im Zug sitzt und niemand mit Forderungen an sie herantritt.
„Wir haben einen deutschen Pass, den hat uns die Polizei in Frankfurt gegeben. Ein Pass ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt. Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben. Man darf dann in kein Land mehr. Aus einem Land muss man raus, aber in das andere darf man nicht rein. Doch der liebe Gott hat gemacht, dass Menschen nur auf dem Land leben können. Jetzt bete ich jeden Abend heimlich, dass er macht, dass Menschen jahrelang im Wasser schwimmen können oder in der Luft fliegen.“

Ist der Vater wieder da, fließt der Champagner, es wird Taxi gefahren und das Leben findet in Cafés statt. Und doch spielt sich alles auf wackligem Boden ab und der Leser weiß das ganz genau
Der Blickwinkel des Kindes, seine naive Sprache mit den unfreiwillig komischen Lebensweisheiten jedoch federn die Tragik der Flucht, die sogar bis nach den USA und zurück nach Europa gehen wird, ab.

„Ich bin froh, dass ich nie mehr in die Schule muss. Man lernt ja gar nichts in der Schule. Die holländischen Kinder, die ich kenne, sind viel größer als ich. Doch ich kann viel besser Englisch, Polnisch, Französisch und Deutsch sprechen als sie. Nur Holländisch können sie etwas besser.“

Unfreiwillig aktuell ist dieses vor 80 Jahren geschriebene Buch von Irmgard Keun, die als Autorin nach dem Krieg völlig vergessen und erst kurz vor ihrem Tod wiederentdeckt wurde. So lange sich die politische wie wirtschaftliche Lage auf der Welt nicht ändern wird, bleibt das Thema Menschen auf der Flucht ein dauerhaftes. Keine Frage, dieses Buch gehört auch in die Hände von jungen Lesern, um zu verstehen was es heißt, fremd im eigenen Land und heimatlos zu sein.

„Wir sind Emigranten, und für Emigranten sind alle Länder gefährlich, viele Minister halten Reden gegen uns und niemand will uns haben, dabei tun wir gar nichts Böses und sind genau wie alle anderen Menschen.“