Sally Nicholls: Keiner kommt davon, Eine Geschichte vom Überleben, Aus dem Englischen von Beate Schäfer, Carl Hanser Verlag, München 2014, 279 Seiten, €14,90, 978-3-446-24511-2

„Vor einer Woche hatte ich vier Brüder, zwei Eltern, eine Schwester und Robin. Jetzt habe ich einen Bruder, eine Schwester und einen Ehemann. Und es ist noch nicht vorbei.“

1348: Ein kleines Dorf, Ingleforn, in der Nähe von York wird zum Schauplatz dieser Geschichte um Isabel, der 14-jährigen Erzählerin. Ihre Familie sind Leibeigene des Landesherren, Sir Edmund. Sie schuften auf seinen Feldern und arbeiten für die eigene Familie. Isabel liebt ihr Zuhause und den Nachbarjungen Robin, dem sie sich von klein an versprochen fühlt. Isabels Vater musste auf Anordnung des Schultheiß nach dem Tod von Isabels Mutter eine neue Frau nehmen. Aber nicht die garstige Agnes, die ihm zugeteilt wurde, wird er heiraten, sondern deren Schwester Alice, eine liebevolle Ehefrau und gute Stiefmutter. Die Kinder lieben Alice und ihren neuen Halbbruder Edward. Nur Richard, der Älteste, kann sich mit den neuen Familienverhältnissen nicht abfinden.

Das Gerücht über die Seuche verbreitet sich im Ort. Pater John predigt, dass nur diejenigen von der Pest befallen sind, die sich von Gott entfernen.

Die Dorfleute sehen die Flüchtenden aus York und ahnen, das die Pest auch bald bei ihnen angelangt sein könnte. Jeder weiß, dass diese Krankheit nicht heilbar ist.

Und dann ist sie da. Radulf und Muriel haben eine Verwandte mit Familie aufgenommen und diese bringt den Pesthauch in den Ort. Die Leute gehen auf Abstand, ob auf den Feldern, beim Brunnen oder im Dorf. Der Priester flieht Hals über Kopf und die gewohnte Ordnung gerät aus den Fugen. Die Menschen sterben einer nach dem anderen. Laienpriester dürfen die Absolution erteilen. Schwer ist es mitanzusehen, wie die Krankheit die Menschen körperlich entstehlt und um den Verstand bringt. Isabel ist eine gute Beobachterin. Sie sieht die Schwächen der Menschen, die christliche Barmherzigkeit gepredigt haben und letztendlich nur an sich selbst denken. Als Margaret stirbt, die Mutter von Robin, stellt sich die Frage, was Isabels Familie tun wird. Nimmt sie Robin, den sie so lang schon kennt, trotz der Krankheit in der Familie auf? Mit Distanz reagieren alle, die mit Menschen zu tun haben, die mit der Pest in Kontakt gekommen sind. Aber Alice nimmt den Jungen in der Familie auf, auch wenn Isabel ihre Zweifel spürt. Als Baby Edward stirbt, folgen Alice und Isabels Vater. Er hat die Kinder in weiser Voraussicht schnell genug von den Kranken getrennt. Jetzt leben sie in der Scheune und haben keine Ahnung, wie ihr Leben weitergehen soll. Robin weiß nicht, ob er der Schuldige ist, ob er die, die ihn lieben, angesteckt hat.

Bei all der um sich greifenden Hilflosigkeit spürt Isabel, dass sie und Robin die Verantwortung für die Kleinen übernehmen müssen. Isabel beobachtet aber auch, wie Frauen nun nach dem Tod der Männer, ihre Stärke spüren und z.B. die Bäckerin die Gewerke in die Hand nehmen.

Und dann zieht ein wohlhabender Kaufmann, der nicht mehr an Gott glauben kann, durch die Ortschaft und nimmt die Geschwister von Isabel einfach nach York mit, denn Robin erinnert ihn an den toten Sohn. Auch wenn es ein Glück für die Kinder zu sein scheint, Isabel traut dem Kaufmann nicht.

Sally Nicholls erzählt eine bewegende Geschichte vom unheimlichen, schwarzen Tod, der jeden mit sich reißen kann. Mit dem Schicksal von Isabels Familie macht die Autorin deutlich, wie sich die gesellschaftlichen Strukturen kurzzeitig verändert haben und welche Verantwortung die Kinder, die überlebten, frühzeitig übernehmen mussten.

Sally Nicholls zeigt aber auch, was es bedeutet, mit anderen mitzufühlen, sie offenbart die Hilflosigkeit der Menschen, ihre Unwissenheit und die Ohnmacht, mit der sie fertig werden müssen. Aus Angst verlieren die Menschen ihre Würde oder sie nutzen, wie die Totengräber, die Gunst der Stunde, um ihre Gier nach Geld auszuleben. Wie aus der Zeit gefallen, kann Isabel ohne auf ihr Geschlecht oder ihren Stand zu schauen, handeln. Sie lässt die Menschen, die ihr wichtig sind, nicht im Stich.

Der Ausnahmezustand hebt die Welt aus den Fugen, denn die Pest wird in Isabels Leben historisch gesehen erneut zurückkehren.