Jenny Erpenbeck: Karios. , Penguin Verlag, München 2021, 379 Seiten, €22,00, 978-3-328-60085-5



„Wenn sie sich sehen, kippt alles immerfort, fällt alles durcheinander, das Lachen und die Verzweiflung, Begehren, Verachtung, Liebe, Mitleid, Hass, Trauer.“

Im Sommer 1986 lernt sich dieses ungleiche Paar kennen. Hans W., 53 Jahre alt, Schriftsteller und Fest Freier Mitarbeitet beim Rundfunk der DDR – Radio DDR I ( mit festem Gehalt, er muss nur eine Sendung im Jahr abliefern ), und Katharina, 19 Jahre alt, in der Ausbildung zur Schriftsetzerin. Eine Amour fou. Er lebt in einer großzügig geschnittenen Wohnung in Pankow mit Frau Ingrid und vierzehnjährigem Sohn Ludwig, hat nebenher noch eine Geliebte bei Radio I und auch noch ein Arbeitszimmer in Berlin-Mitte in der Glinkastraße. Er geht gern ins Theater, in Restaurants, wie dem „Ganymed“ oder in die „Offenbachstuben“, pflegt seine guten Kontakte zu bekannten Autoren, wie Heiner Müller. Natürlich machen Kulturschaffende an der Ostsee ihren jährlichen Urlaub und Reisen ins westliche Ausland sind für ihn scheinbar normal. Wer ist dieser Mann, der sich eine extrem junge Frau, die er sogar schon als Kind erlebt hat, zur Geliebten machen möchte? Einst aus dem Westen in die DDR übergesiedelt, hat er sich mit Privilegien ausgestattet ein intellektuelles Nest gebaut mit dem großen Vorteil, dass auch seine Frau für eine offene Ehe plädiert. Als sie jedoch erkennt, wie jung die Geliebte ist, trennt sie sich zeitweilig. Aber Hans wird wieder in den sicheren, auch finanziell sicheren Ehehafen zurückkehren. Was verbindet nun diese beiden so unterschiedlichen Liebenden? Ist es die Suche nach der Vaterfigur? Ist es die Möglichkeit, einem unbescholtenen Kind Wissen einzutrichtern, mit ihm wie zum ersten Mal alles zu erleben, die Liebe, die klassische Musik, das Theater, die Literatur? Und doch liegt über allem ein Hauch von Abschied, erklingt nicht beim ersten Sex der beiden Mozarts „Requiem“. Wie bei Liebenden oft gibt es eine Zukunft, in der sich Katharina bereits die Namen ihrer gemeinsamen Kinder ausdenkt. Ein Spiel. „Kairos“, das ist der Gott des glücklichen Zeitpunkts, der nur für einen Moment an seiner Haarlocke zu fassen ist.

Ohne all die graue Tristesse durchlaufen die LeserInnen eine Hauptstadt der DDR namens Berlin aus dem Blickwinkel zweier Liebenden, die den Alexanderplatz, den Marx-Engels-Platz ( heute Hackescher Markt ), die Friedrichstraße und die Stadtmitte als ihre Stadt erleben. Kein Café – Besuch ist mit Wartezeiten verbunden, man kennt die Kellner und Kellnerinnen und Hans hat, kaum ist die Mauer 1989 offen, auch sein Lieblingsrestaurant am Savignyplatz.
Als Wolf Biermann ausgebürgert wurde, hätte er als Genosse der SED beinahe unterschrieben. Hat er aber nicht.
Hans scheint die Gefahr zu lieben, die ihn mit Katharina verbindet. Er gibt sich generös, sieht sich als denjenigen, der sicher verlassen werden könnte. Aber in dem Moment, wo Katharina sich einem jüngeren Mann namens Vadim während ihres Praktikums in Frankfurt an der Oder auf dem Weg zum Studium als Bühnenbildnerin zuwendet, bricht der rätselhafte Hans‘ scheinbar zusammen. Die Liebe der beiden hat nun einen Vertrauensverlust zu beklagen, den er ins Unermessliche dramatisiert und von Katharina Schuldbekenntnisse und erneute Liebesbeweise erwartet, ja einfordert. Eine Farce. Immer wieder scheint das Motiv auf, dass alles erst zerstört werden muss, damit etwas Neues beginnen kann. Hans und Katharina begegnen sich zu einer Zeit, in der die DDR bereits dem Untergang geweiht ist. Sie kann zum ersten Mal in ihrem Leben in den Westen, nach Köln zur Oma reisen. Er wird sich nicht für die Abkehr der Demonstranten gerade am 4. November 1989 vom DDR-Regime interessieren. Gezeigt wird die DDR-Wirklichkeit mit all ihren hellen wie dunklen Seiten aus dem Blickwinkel von zwei Generationen.

Nach Hans‘ Tod bringt eine Frau für Katharina zwei große Kartons. Ihr Mann nimmt diese entgegen. Katharina wird mit den Aufzeichnungen, aufgehobenen Bons, Eintrittskarten, Tagebüchern und besprochenen Kassetten sich an diese Liebe und auch an die letzten Jahre in der DDR erinnern.

Jenny Erpenbeck kennt das kulturelle Milieu, die Akademie der Wissenschaften aus eigenen Erfahrungen. Sie dichtet ihrer Katharina den eigenen beruflichen Weg an. Viele Namen und Hintergrundinformationen zu Schriftstellern fließen ein und belegen Hans‘ intensive Kenntnisse, seine Distanz aber auch Nähe zum DDR-Regime.

Sprachlich fein formuliert tariert die Autorin alle Spielarten der Liebe aus, vom zärtlichen Beginn bis zum bitteren, sehr bitteren Ende.