Julie Clark: Die unsichtbare Hand, Aus dem Amerikanischen von Ursula Pesch und Christina Reinhardus, Heyne Verlag, München 2025, 400 Seiten, €16,00, 978-3-453-44165-1
„Mein Vater hat Danny und Poppy entweder getötet und möchte es zugeben, oder er hat es nicht getan und will, dass ich herausfinde, wer es getan hat. Und wie so oft in meiner Kindheit sagt mir mein Vater nicht einfach das, was ich seiner Meinung nach wissen sollte. Er erwartet, dass ich es allein herausfinde.“
Olivia Dumonts Kindheit endete in Ojai in Kalifornien, als sie zehn Jahre alt war. Ein Junge, Kinder können so grausam sein, erzählte ihr genüsslich, dass ihr Vater im Sommer 1975 seine eigenen Geschwister Danny und Poppy ermordet habe. Niemand in der Familie, die Mutter hat Olivia früh verlassen, hat je mit dem sensiblen Kind über diese tragische Geschichte gesprochen. Es war ein Geheimnis, doch nun wusste Olivia endlich, warum niemand mit ihr spielen wollte und sie nur einen einzigen Freund namens Jack hatte. Aber auch diesen verlor sie aus den Augen, als sie mit vierzehn Jahren in ein Internat in der Schweiz geschickt wurde. Ihr Verhältnis zu ihrem Vater, einem erfolgreichen Schriftsteller von Horrorromanen und Alkoholiker, war zerrüttet, zumal Vincent Taylor sie immer wieder im Stich ließ und sich nie wirklich um sein Kind kümmerte.
Doch nun, mehr als zwanzig Jahre später, soll die vierundvierzigjährige Olivia als Ghostwriterin für den Vater in Ojai arbeiten. Niemand weiß, dass Olivia die Tochter des berühmten Autors ist, der an Lewy-Körperchen-Demenz leidet. Olivia hadert mit diesem Aufftrag, aber sie kann es sich nicht leisten, das hohe Honorar abzulehnen, da sie in einem Gerichtsverfahren gegen einen anderen empathielosen Ghostwriter von einem gnadenlosen Richter und offenbar Frauenhasser zu einer immensen Geldstrafe verurteilt wurde.
Im Zentrum der Handlung stehen nun die Auseinandersetzungen der Tochter mit dem kühlen wie hartherzigen Vater, der bereits in seine eigenen Welten abtaucht und sein ringen um die Geschehnisse im Hause Taylor im Sommer 1975. Vincent Taylor will keinen neuen Thriller schreiben, sondern seine Memoiren. Er hofft, mit Olivias Hilfe seiner Erinnerungen zu sortieren und endlich Antworten darauf zu bekommen, was wirklich an diesem einen tragischen Nachmittag geschehen ist, an dem er schlagartig zum Einzelkind wurde. Olivia soll allerdings mit niemandem sprechen und sie darf laut Vertrag nicht recherchieren, was sie allerdings ignoriert. Sie will wissen, wer der siebzehnjährige Danny und die vierzehnjährige Poppy waren, die so früh ihr Leben lassen mussten. Wer hat die beiden Teenager im Haus erstochen?
Alles, was Olivias Vater leicht konfus aufgezeichnet hat, ist gekennzeichnet durch eine lückenhafte Erinnerung, der die Autorin keinen Glauben schenkt. Wurden die drei Kinder, Vincent war zu diesem Zeitpunkt sechzehn, von den Eltern nicht streng erzogen, so gab es doch Regeln, die zu befolgen waren. Immer wieder geht es um Rivalitäten zwischen Danny und Vincent, ihre Prügeleien. Auch Danny hatte ein Auge auf Vincents Freundin Lydia, die spätere Mutter von Olivia, geworfen. Immer wieder wurde im Ort angeblich gemunkelt, dass Lydia abgetrieben habe. Ein Eklat in dieser Zeit.
Aus verschiedenen zeitlichen Perspektiven lässt die amerikanische Autorin Julie Clark ihre Figuren von den Geschehnissen in Vergangenheit und Gegenwart erzählen. Poppy, die gern mit ihrer Super-8-Kamera alles festhielt, kommt zu Wort, aber auch Vincent und natürlich Olivia.
Als Olivia dann aus dem wirren Gerede ihres Vaters entnimmt, dass es ein Geheimversteck im alten Haus geben muss, dessen Eigentümer Vincent Tayler bis heute ist, gewinnt die Geschichte an Tempo. Zehn Filmrollen entdeckt Olivia und der entscheidende Beweis, die Kamera selbst mit Film, wird Olivia bei ihrer Mutter finden, die sie nach jahrelangem Schweigen aufsucht.
Ein durchaus packend geschriebener Roman über eine tragische Familiengeschichte, ein schwieriges Vater – Tochter – Verhältnis und das verhängnisvolle Schweigen in der Kleinstadt.