Julia Holbe: Man müsste versuchen, glücklich zu sein, Penguin Verlag, München 2025, 400 Seiten, €22,00, 978-3-328-60179-1
„Wie geht man damit um, mit dem Leid der Eltern? Kann man das aushalten, will man das aushalten? Bis zu welchem Grad muss man Verantwortung übernehmen? Wer verpflichtet einen dazu?
Muss man gar nichts? Aber was treibt einen so in die Verantwortung? Verpflichtung? Liebe? Schuld? Mitleid? Vielleicht alles zusammen?“
Diesen Gedanken geht Flora nach, als sie im Haus der verstorbenen Eltern in Luxemburg steht und mit ihren Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend überhäuft wird. Ein Jahr nach dem Tod des Vaters, der nur kurze Zeit nach der Mutter verstorben ist, ringt sich die Tochter dazu durch, sich um den Nachlass zu kümmern. Soll sie das Haus vermieten, behalten oder verkaufen? Floras Tochter Lucie, eine gestandene Ärztin, drängt die Mutter zu Entscheidungen und zum Treffen mit der jüngeren Schwester Millie, auch sie eine erfolgreiche Ärztin. Doch Millie, Flora nennt sie gern die „blöde Schwester“, hat sich seit Jahren völlig aus dem Familienleben zurückgezogen. Sie hat sich weder um die alten Eltern gekümmert, noch ist sie mit Mann und Sohn zu den Beerdigungen erschienen. Als sie dann vor der Schwester steht und sich deren berechtigte Vorwürfe anhören muss, beharrt sie ziemlich aggressiv darauf, dass es ihre alleinige Entscheidung war, auf Abstand zu gehen und das diese ihr und eigentlich jedem zusteht. Doch wie ist es, wenn die Eltern die Kinder wirklich brauchen, wenn die Rollen schleichend vertauscht werden und aus charismatischen, eigenständigen, lebensfrohen, auch verantwortungslosen wie chaotischen Vätern und Müttern kranke, hilfsbedürftige Menschen werden? Wie lange hadern Kinder mit ihren Eltern, die sie angeblich liebevoll, aber angeblich sorglos vernachlässigt haben? Und welche Erinnerungen an die Zeit mit den Eltern stimmt denn wirklich? Verzeiht man nicht und geht vernünftig alten Konflikten aus dem Weg, wenn man Mitte fünfzig ist oder gar auf die sechzig zugeht? Diese Fragen werden in diesem Roman aufgeworfen und in den Auseinandersetzungen und auch im Zusammenspiel der Schwestern diskutiert.
Julia Holbe, Tochter vom Moderator Rainer Holbe, jedenfalls entwirft, in ihrem möglicherweise auch autobiographisch geprägten Roman in Rückblenden in die Kindheit in den 1970er und 80er Jahren aus Floras Sicht, ein Bild von einer sehr lebendigen Familie, die ein offenes Haus für Künstler, Schauspieler und Kunstschaffende geführt hat und durch den öffentlichkeitswirksamen Beruf des Vaters, er arbeitete mit seiner wunderbaren Rundfunkstimme bei Radio Luxemburg, auch gern seinen Affären nachging. Die Eltern lieferten sich heftige Kräche, in den auch Honiggläser durch die Luft flogen, lebten allerdings gut sechzig Jahre zusammen. Dachte Floras temperamentvolle Mutter, genannt Féfé, an Trennung, so liebte sie doch ihr Leben in Sicherheit und an der Seite des Vaters. Mag sie nicht die beste Mutter gewesen sein, so hatte sie vielleicht eine Wochenbettdepression, da sie mit kleinen Kindern einfach nichts anfangen konnte. Kindermädchen kamen ins Haus, die heiß und innig geliebt wurden.
Immer wieder brechen zwischen den Schwestern Streitereien aus, in denen Millie zu Wutausbrüchen neigt, als wäre sie noch ein Kind und heimlich Sachen von den Eltern in den Koffer packt. Dabei wollte die Schwestern eigentlich gemeinsam entscheiden, was wer mitnehmen darf. Ein Entrümpelungsunternehmen wird hastig bestellt und ein Makler soll seine Arbeit aufnehmen. Das Haus gleicht einem Museum, denn nichts konnten die Eltern fortwerfen. Nichts haben die Hippie-Eltern vor ihren Kindern verborgen, was sicher auch eine Bürde war.
„Als Kind hatte ich immer das Gefühl, die Zuschauerin in einem Theaterstück zu sein, das man nicht begriff, immer wieder tauchten andere Darsteller auf, die Konstellationen änderten sich, Ewi ging, Lisa kam und blieb, und niemand wusste, welche Rolle sie eigentlich spielte.“
Was bleibt am Ende von einem Leben? Wie schaut man auf die Kindheit und den Einfluss der Eltern zurück? Mit einem Lächeln oder eher voller Gram?
Liegt es nicht auch an jedem und jeder selbst, wie er oder sie sich zu den Eltern verhält, einen guten Abschluss findet, um dann zu versuchen, glücklich zu sein.
Wunderbare Familiengeschichte mit Tiefe!