Joy Fielding: Die Besucherin, Aus dem amerikanischen Englisch von Kristian Lutze, Goldmann Verlag, München 2024, 448 Seiten, €22,00, 978-3-442-31787-5
„Wie eigenartig, denke ich unwillkürlich, dass ich mich bei einer möglichen Serientäterin geborgener gefühlt habe als je bei meiner eigenen Mutter.“
Immer wenn die ehemalige, siebenundsechzigjährige Lehrerin, Linda Davidson, ihre beste Freundin, Carol Kreiger, im ziemlich kostspieligen Seniorenheim in Florida besucht, fühlt sie sich niedergeschlagen. Seit kurzem versinkt Carol immer mehr in ihrer eigenen Welt. Sie erkennt weder ihren Mann Lorne, noch Linda. Auch die anderen Bewohner in Legacy Place kämpfen mit ihren Dämonen. Eine ebenfalls sehr alte Frau, namens Jenny Cooper, begegnet Linda in den Fluren des Hauses und diese erzählt ihr völlig ungeschützt, dass sie so einige Menschen auf dem Gewissen hat. Doch kann Linda der unberechenbaren Jenny Cooper trauen oder fantasiert die Frau in ihrem Zustand, um Aufmerksamkeit zu erregen?
Zu Hause erzählt Linda ihrer Tochter Kleo von der unheimlichen Begegnung. Kleo lebt mit ihrem Mann Mick mietfrei bei der Mutter. Schwiegersohn Mick will sich ein eigenes Software – Unternehmen aufbauen und Kleo schreibt nun schon das dritte Jahr an ihrer Dissertation. Sie hat sich sogar als Lehrerin beurlauben lassen. Allerdings streiten Kleo und ihr Mann ständig und Linda bereut bereits ihre großzügige Entscheidung. Immer öfter geht Linda bei ihren Besuchen in Legacy Place nun eher zu Jenny als zu Carol, deren Verhalten immer rätselhafter wird. Dabei stellt sich auch die Frage, warum Linda die Nähe von Jenny sucht, die sehr ausfallend und vulgär werden kann. Ein Grund ist vielleicht Lindas mittlerweile langweiliges Leben, denn ihr Mann Bob ist vor zwei Jahren gestorben und ihr Freundeskreis wird auch immer kleiner. Jenny, die von Beruf Apothekerin war, jedenfalls erzählt Linda nun von ihren Morden an Menschen, die ihr wehgetan haben.
Hatte doch ihr Vater doch vor den Augen der kleinen Jenny die Mutter erdrosselt. Von diesem Trauma gezeichnet wird Jenny sich später am Vater rächen und ihn mit ihrer Spezialmischung töten. Es sieht aus, wie ein Herzinfarkt und niemanden kümmert es. Linda, die eine heimliche Schwäche für alle möglichen True – Crime – Dokus hat, taucht immer mehr in das Leben von Jenny ein. Und sie leidet unter den Spannungen in ihrem eigenen Zuhause, in dem sich ihr Schwiegersohn offensichtlich auch ohne Arbeitserfolge pudelwohl fühlt, am Tag Bier trinkt, Pornos schaut und die Doktorarbeit seiner Frau behindert. Kleo jedoch scheint ihn zu durchschauen, wagt aber kaum ihm ehrlich die Meinung zu sagen. Beide Eheleute sind an einen Punkt gelangt, wo die Gemeinheiten, die sie sich an den Kopf werfen, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Und dann sieht Linda zum ersten Mal, dass ihre Tochter verletzt ist. Hat Mick sie geschlagen?
Joy Fielding verbindet in ihrer linear erzählten Handlung die persönliche Geschichte einer unerkannten Serienmörderin, einer unscheinbaren Frau, die zu Geld gekommen ist und die Geschichte einer Rentnerin, die nicht mehr weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll und vielleicht auch nie etwas gewagt hat. Hat sich Jenny, die sehr aggressiv werden kann, alles nur bedingt durch ihr Leiden ausgedacht? Wird Linda Jennys Taten gegen den Vater, den Bruder und die Ehemänner an die Öffentlichkeit zerren? Und wie viele Menschen hat Jenny vielleicht sogar im Altenheim auf dem Gewissen?
Joy Fieldings literarische Figuren spiegeln die Geheimnisse, Lügen und Abgründe, denen demente Menschen ausgeliefert sind und die Qualen derjenigen, die zurückbleiben. Wenn Linda eines jedoch aus all dieser Zeit mit Jenny gelernt hat, sie schaut nicht mehr hilflos zu, wenn eine Gefahr auf sie zukommt.