Joachim Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen – Alle Toten fliegen hoch, Teil 6, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, €26,00, 978-3-462-00699-5
„Schon mein ganzes Leben habe ich nach Menschen gesucht, in deren Gegenwart sich mein Sprechen zur Wirklichkeit formt. Ich war nie gut darin, für mich allein zu denken und zu dichten und dann fertige Geschichten als Kunstwerke in die Welt zu entlassen. Meine Geschichten entstanden in den Echoräumen meiner Gegenüber, und meine Mutter war seit jeher die mir vertrauteste Zuhörerin.“
Wenn man aus einer so wunderbaren Kulturstadt wie Wien nach Berlin zieht, kann das nur zu Komplikationen führen, zumal eine Wohnung, auch wenn sie im Zentrum liegt und sich noch im Umbau befindet, sicher nicht zum angegebenen Zeitpunkt bezugsfertig ist. Berlin hat es nicht so mit der Pünktlichkeit. Die Leute sind oft sehr ruppig, vor allem direkt und ziemlich unfreundlich, wenn es echte Berliner sind. Sicher könnte man wohlwollend sagen, dass die Berliner und Berlinerinnen eine große Schnauze haben, aber dafür einen guten Kern, aber eigentlich ist der Spruch nur das Mäntelchen, das alle Unzulänglichkeiten überdecken soll.
Der Schauspieler Joachim Meyerhoff beschreibt nun in nicht immer lakonischer Weise seinen Kampfplatz Berlin, der ihm allen Schwung und Optimismus nimmt. Noch gesundheitlich angeschlagen, Panikattacken quälen ihn, kann sich der Sechsundfünzigjährige einfach nicht in den Großstadtalltag einleben. Alle Geräusche zerren an seinen Nerven, er kann nicht gut schlafen, ist deprimiert und der Stadt kaum gewachsen. Allerdings neigt Meyerhoff, so wie er es schonungslos beschreibt, zu seltsamem Aktionismus und Unüberlegtheiten, die er in seinem Alter sicher nicht mehr ablegen kann. Nach einem Eklat beim Geburtstag seines neunjährigen Sohnes zieht er die Reißleine und verlässt fluchtartig für gute zehn Wochen Berlin. Unter dem Vorwand, seiner sechsundachtzigjährigen Mutter in ihrem großen Garten helfen zu müssen, fährt er an die Ostsee nach Schleswig-Holstein.
Er will endlich wieder schreiben und Zeit mit seiner erstaunlich agilen Mutter verbringen, die zwar allein wohnt, aber doch selbstbestimmt alles regeln kann. Sie liebt ihren Whisky, fährt rasant Auto, schwimmt auch in der kalten Ostsee, klettert mutig zur Ernte auf Apfelbäume, backt leidenschaftlich gern und kann charmant sein, wenn sie möchte und gesellig, aber auch verkniffen und unnahbar. Jede Szene mit der Mutter und jede erinnerte Episode schildert Joachim Meyerhoff atmosphärisch dicht und verblüffend so, als würde alles vor dem inneren Auge des Lesenden ablaufen.
In einem Wechsel aus zeitnahen teils witzigen Episoden mit der Mutter in Haus und Garten, die der Erzähler erlebt und beruflichen wie privaten Erinnerungen setzt sich der neue, sechste Band zusammen. Nie geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit der Mutter, die ihrem Sohn auch als Erwachsenem eindeutig Grenzen setzt und dazu bringt, dass er wirklich loslassen muss und die Mutter kaum beeinflussen kann. Viele Erinnerungen, die Meyerhoff im Norden zu Papier bringt, schreibt er auch für seine Mutter auf, die eine gute Zuhörerin und Interpretin seiner Geschichten ist, wie sich später herausstellen wird. Der Autor umkreist seine Arbeit als Schauspieler, z.B. reflektiert er über sein erstes Engagement in einem Kinderstück an einem Provinztheater, er schaut zurück und denkt an die seltenen Drehtage, bei denen ihn seine Tochter begleitet hat oder erinnert auch dramatische Szenen aus der Kindheit mit seinen Brüdern. Da er einst schon mal nach der Wende in Berlin am Maxim Gorki-Theater gearbeitet hat, beschreibt er äußerst berührend die beruflich so absurde Situation der unkündbaren Schauspieler, die zu DDR-Zeiten einen festen Platz im Ensemble hatten.
Mag die Rückkehr nach Berlin wichtig sein, denn ein Kind verzeiht doch vieles, was Eltern falsch machen, so war sicher die Zeit in der Natur mit der Mutter für die Genesung der Nerven und einem inneren Gleichgewicht absolut nötig. Auch dieser Meyerhoff – Band ist ein wahres Lesevergnügen, denn der Autor erzählt von sich schonungslos und von vertrauten, wie fremden Menschen achtsam und feinfühlig.