Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts, Rowohlt Verlag, Reinbeck 2011, 432 Seiten, 19,95 Euro, 978-3-498-05786-2

„,Der Kommunismus, Charlotte, ist wie der Glaube der alten Azteken: Er frisst Blut.’“

Der 57-jährige Eugen Ruge erzählt in seinem Debütroman bis ins Jahr 2001 die Geschichte der kommunistischen Familie Umnitzer, deren Mitglieder in den 1950er-Jahren aus dem Exil in die DDR zurückkommen. Charlotte und Wilhelm, beide einfache Leute mit wenig Schulbildung und einst eifrig treue KPD-Genossen, erhalten nach ihrer Rückkehr aus Mexiko in der DDR hohe Führungsposten. Charlottes Sohn Kurt, inzwischen mit der Russin Irina verheiratet, erhält nach seiner Lagerzeit und der Verbannung in ein kleines Kaff im Nord-Ural als Historiker an der Berliner Akademie der Wissenschaften eine Stelle. Sein Bruder Werner wurde, das will jedoch seine Mutter nicht hören, in Workuta getötet. Der Grund für die Haft: Sie hatten eine Entscheidung Stalins kritisiert.
Eugen Ruge erzählt vom Niedergang einer Familie. Es ist seine Familie, einst eine DDR-Vorzeigefamilie. Der im Ural geborene Mathematiker Ruge, der an der Berliner Humboldt-Universität studierte, arbeitete nach seiner Umsiedlung 1988 im Westen beim Theater. Über eine lange Zeit hat der Autor mit dem sehr persönlichen Stoff gerungen und musste warten bis er der letzte Überlebende seiner Familie war, um frei zu sein und zu schreiben.

Aus verschiedenen Perspektivebenen und zeitlich ineinander verschraubt gewinnt der Leser schlaglichtartig Einblicke in das private Leben der Menschen, die den demokratischen Sozialismus für die richtige Gesellschaftsform hielten, erste Zweifel hegen und doch weitermachen, sich gegen das System entscheiden und es letztendlich nur noch als Geschichte betrachten.
Wichtige Daten sind, keine Frage, gesellschaftliche Schnittpunkte – 1961 und 1989. Aber Eugen Ruge gewährt eine Innenansicht seiner Familie, arbeitet mit Dialogen, einer sehr realistischen Erzählweise und Leerstellen, überlässt es dem Leser diese zu füllen. Im Wechsel von Gegenwart, der schwerkranke Enkel Alexander, Eugen Ruges Alter Ego, reist desillusioniert auf den Spuren der Oma Charlotte durch Mexiko, und Vergangenheit setzt sich der Leser ein genaues Bild von den lebendig gestalteten Familienmitgliedern zusammen, leidet mit ihnen, versteht sie oder lehnt ihre Handlungsweisen ab. Durch das unmittelbare Erzählen Ruges versetzt er den Leser in die nahe, wie historische Gegenwart.
Wilhelm, der typische Parteiarbeiter und unverbesserliche Betonkopf mit dubioser Geheimdienstvergangenheit, dominiert das Leben der sich redlich abmühenden, aber intellektuell überforderten Charlotte. Beide ziehen in das Haus eines alten Nazis in Neuendorf und tyrannisieren ihren Sohn Kurt und dessen russische Frau Irina. Verschanzt sich Kurt hinter seinen linientreuen Buchveröffentlichungen, so versucht die lebenstüchtige, dem Alkohol immer mehr zusprechende Irina mit Tauschgeschäften die Anbauten am Haus zu regeln. Die ermüdenden wie nervigen Alltagssorgen im realen Sozialismus, die ideologischen Grabenkämpfe und die Angst, etwas Falsches geschrieben oder gar geäußert zu haben, gehen auch nicht an den eilfertigen Genossen vorüber.

Beider Sohn, Alexander, tritt in die Fußstapfen des Vaters. Er bindet sich früh, studiert Geschichte, kann aber nicht mehr die Augen vor den Lebenslügen der Eltern und des Staates verschließen.

Eine der besten Szenen, die Eugen Ruge geschrieben hat, ist gerade dieser Moment. Kurt sucht seinen Sohn 1979 in einer schwarz besetzten heruntergekommenen Wohnung auf, versucht mit ihm an diesem Wintertag irgendwo an der Schönhauser Allee essen zu gehen. Beide laufen frustiert sich gegenseitig beschimpfend von einem Lokal zum nächsten. Atmosphärisch dicht zeichnet der Autor gerade in dieser und in weiteren Szenen ein faszinierend genaues Bild der Stimmungslagen im Privaten wie Gesellschaftlichen. Es ist die scheiternde Gründungsgeneration der DDR die Eugen Ruge vorführt, in ihrer kleinlichen Denkweise, mit ihrem Opportunismus, ihrem Misstrauen und der blinden Parteihörigkeit.
Ironie der Geschichte: Als der Vater, später wird er im dementen Zustand dahindämmern, nach der Wende endlich ein Buch über seine Haft- und Verbannungszeit in Slawa schreibt, wird dies ein Erfolg.

Durch die Einblicke in die privaten Innenwelten und zutiefst persönlichen Gedanken der Figuren zeigt Eugen Ruge, wie sich die gesellschaftlichen Zwänge auf das Leben ausgewirkt haben, wie die guten Absichten alles richtig zu machen im Sande verlaufen sind.

Auf Markus, Alexanders Sohn, wirkt der alte Wilhelm an seinem 90.Geburtstag, kurz vor dem Fall der Mauer, wie ein überlebender Dinosaurier, der in seinem Sessel thront, wie ein König die Gäste mit seinen unfreiwillig komischen Bemerkungen abkanzelt. \r\nSo wie die tierischen Mitbringsel aus Mexiko von Charlotte und Wilhelm völlig falsch bezeichnet werden, so scheint auch ihr Leben in völlig falschen Bahnen verlaufen zu sein. Wilhelm bleibt stur dem Stalinismus treu und Charlotte hofft nach dem Tod des Gefährten endlich leben zu können. Ein fataler Denkfehler, denn alles hat Wilhelm im Haus bereits zerstört, Türen zugemauert, Geschaffenes einfach eingerissen. Ein bezeichnendes Bild für die Gesellschaft.
Gerade dieses nüchterne Erzählprinzip, ohne Wertungen, dass sich den Fesseln des chronologischen Denkes entzieht, macht diesen Familienroman so lesenswert.

Bereits das Prosamanuskript „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ erhielt 2009 den Alfred-Döblin-Preis. In einem Interview sagt Eugen Ruge über seinen autobiografisch gefärbten Roman: „Über Motivationen zu reden, ist schwer, denn ein großer Teil ist dem Autor gewiss nicht bewusst. Ich schreibe jedenfalls aus keinem Leidensdruck heraus, auch schätze ich den Einfluss der Literatur auf die Gesellschaft als gering ein. Eine gewisse Rolle spielt das Bedürfnis, die Zeit anzuhalten, zurückzuholen, Erfahrungen zu bewahren. Ich habe vergessen, wer gesagt hat, der Urgrund der Literatur sei der Wunsch, die Kindheit wiederzubeleben. Nabokov?“