Charlotte Rogan: In einem Boot, Aus dem Englischen von Alexandra Ernst, script 5, Bindlach 2013, 334 Seiten, €18,95, 978-3-8390-0150-9
„ Aber mein Gehirn war taub vor Angst, und erst jetzt, wo das alles hinter mir liegt und ich mich einer anderen Art von Autorität gegenübersehe, entsteht in mir der Eindruck, dass in dem Rettungsboot von Anfang an ein Netz aus Einflussnahme und Verrat gewoben wurde.“
Grace Winter, Hannah West und Ursula Grant haben den Untergang der Zarin Alexandra 1914 überlebt und nicht nur einmal dem Tod in die Augen gesehen. 21 lange Tage sind sie anfänglich mit 39 Passagieren im Rettungsboot Nr. 14 über den grauen Ozean geschippert. Sie haben alles durchgestanden, die Angst um die Angehörigen, die Unwetter, den Hunger, den Durst, die zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen und die Hysterie ihrer Leidensgenossen.
Nun stehen sie vor Gericht, denn sie werden des Mordes angeklagt.
Die 21-jährige Grace ist die Erzählerin dieser aufwühlenden Rettungs- wie Mordgeschichte. Sie hofft bis zuletzt, dass ihr Mann Henry sich in eines der Boote flüchten konnte. Umsonst. Auf dem Weg von Liverpool nach New York ereignete sich an Bord der Zarin Alexandra eine Explosion und ein heilloses Chaos folgte. Schnell stellt sich heraus, dass die Rettungsboote viel zu klein sind für die angebliche Anzahl der Insassen, die sie aufnehmen können. Henry sorgt dafür, das Grace in eines der sieben Meter langen Boote gesetzt wird. Das Kommando über Graces Boot übernimmt der erfahrene, grobschlächtige Seemann John Hardie. Noch in der Nähe des untergehenden Bootes bemerken die geretteten Insassen Menschen, die ums Überleben kämpfen, sogar ein Kind. Hardie verweigert jegliches Mitleid und fordert seine Leute nur auf zu rudern, damit sie nicht in den Sog der Zarin Alexandra gelangen.
Grace ist aber nicht nur die Beobachterin des Geschehens, sie erinnert sich auch an ihr zurückliegendes Leben. Sie weiß nicht, ob ihr Ehemann wirklich seiner Mutter ein Telegramm geschickt hat, um ihr die Neuigkeit zu übermitteln. Grace und Henry hatten in London geheiratet, dabei war Henry eigentlich bereits verlobt. Nicht uneigennützig hatte Grace sich ihren künftigen, wohlhabenden Ehemann ausgesucht, denn ihr Vater musste Konkurs anmelden. Sein Selbstmord brachte die Mutter und die beiden Töchter in eine schwierige, finanzielle Lage.
Nun sitzt Grace im Rettungsboot und fühlt sich eigentlich mit den Entscheidungen Hardies einverstanden. Er versucht, die Passagiere zu beruhigen, ihnen einzureden, dass bald Hilfe käme, da sie sich auf einer befahrenen Schiffsroute befinden würden.
Er behauptet, es seien noch Notsignale abgesendet worden. Grace bezweifelt dies.
Mrs Grant, eine äußerst nicht nur körperlich starke Frau, kümmert sich um die depressiven Passagiere. Hannah, eine jüngere Frau, verbreitet ebenfalls Optimismus und ein Gefühl von etwas Sicherheit. Die Debatte darüber, dass das Boot zu tief liegt, weil zu viele Leute mitfahren, kocht immer wieder hoch. Als ein Sturm sich ankündigt, besteht die Gefahr, dass das Boot sinken könnte. Jemand muss ausgewählt werden, der freiwillig das Boot mitten auf dem Ozean verlässt. Eine schwierige, wie unaussprechlich unmenschliche Entscheidung. John Hardie verteilt Streichhölzer und manipuliert in gewisser Weise nach Alter und Durchhaltekraft diese Todeslotterie.
Drei Männer müssen sterben.
Langsam sinkt der Mut der Insassen, von denen bereits acht durch Wahnsinn oder wissentlicher Entscheidung verstorben sind. Immer wird gefragt, mussten die Männer sterben, warum haben wir nicht das Kind aufgenommen? An Bord beginnt ein Machtkampf zwischen einerseits Hardie und andererseits Mrs Grant und Hannah.
Nun wird abgestimmt, ob Hardie das Boot erleichtern soll. Als die Reihe an Grace kommt, ist bereits klar, dass die Mehrzahl dafür ist. Aber Hardie, der offenbar im Boot etwas in einem Kästchen mitschmuggelt, hat jegliche Autorität verloren. Grace hilft bei seiner Beseitigung und kann sich ihre „Energie des Wahnsinns“ im Nachhinein gar nicht mehr erklären. Sie ist Mrs Grants Anweisungen gefolgt.
An Land wird die junge Frau vor Gericht gestellt. Es besteht der Verdacht, dass die drei Frauen John Hardie vorsätzlich und geplant getötet haben.
Atmosphärisch dicht und vor allem immer auch den Zeitgeist zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade für Frauen im Hinterkopf erzählt die amerikanische Autorin Charlotte Rogan von einem Ausnahmezustand und verknüpft diesen unterschwellig mit moralisch-ethischen Fragen. Bereits zwei Jahre vor diesem Unglück sank die Titanic. Aus diesem Grund wurde auch die Reiseroute umgestellt. Doch dies half den Menschen an Bord wenig, denn es stellt sich heraus, dass ihr Schiff sich mehrmals verkauft in schlechtem Zustand befand.
Grace fängt die Stimmungen an Bord des Rettungsschiffes ein, beschreibt die Meereslandschaft, durchleuchtet mehrere Personen an Bord und ihr Schicksal und entpuppt sich als starke, aber auch ambivalente, wie beeinflussbare Figur, die ihren Glauben an einen Gott verloren hat.
Das eigene Überleben vor Augen ist sie keine stille Heldin, aber auch kein Opfer.
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