Majgull Axelsson: Ich heiße nicht Miriam, Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt, List Verlag, Berlin 2015, 571 Seiten, €20,00, 978-3-471-35128-4

„So ist es nun einmal. Sie kann es nicht zulassen, dass jemand die Wahrheit erfährt, sie kann nicht einmal zulassen, dass sie selbst sich die Wahrheit eingesteht. Sie muss weiterhin so leben, wie sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat, darf nicht dem, was vor mehr als einem Menschenalter geschehen ist, erlauben, die Monate oder Tage, die ihr noch bleiben, zu zerstören.“

Wie lang kann ein Mensch seine Herkunft verleugnen, die „Schränke der Erinnerung“ verschließen? Kann er sie vergessen oder tief in seinem Bewusstsein vergraben? Miriam Adolfsson, die in der Mittsommernacht, obwohl sie gar nicht weiß, wann sie geboren wurde, fünfundachtzig Jahre alt wird, träumt immer wieder von Hunger, Einsamkeit, Verlust und der alles verzehrenden Angst. Als die Familie ihr ein silbernes Schmuckstück, „die Zigeunerarbeit“ mit dem eingravierten Namen schenkt, entweicht ihr, trotz aller Vorsicht, der Satz: „Ich heiße nicht Miriam.“

Als junges Mädchen gelangte Miriam nach dem Krieg über Dänemark nach Schweden. Sie heiratete Olof und wurde die Mutter von Thomas, dessen leibliche Mutter Marianne nach der Geburt verstarb. Thomas ist seit Jahren unglücklich mit Katarina verheiratet, die Miriam nicht mag. Ein gutes Verhältnis dagegen hat Camilla, die Tochter von Thomas und Katarina, zur Großmutter. Bei einem Spaziergang beginnt Miriam, trotz gesundheitlicher Schwächen endlich zu reden. Sie erzählt Camilla, wie sie zu ihrem Namen kam und wer sie eigentlich ist.

Miriam ist keine Jüdin aus Deutschland, sie stammt aus der Familie von sesshaften Zigeunern, wie man sie damals nannte, die in Bayern gewohnt haben. An ihre Mutter hat sie keine Erinnerungen, da sie früh starb, aber an den Vater, der Ohrringe für sie fertigte, an Didi, ihren kleinen Bruder und an Anuschka, ihre Cousine. Aus der Familie von einer Sekunde zur nächsten herausgerissen, lebte Malika, so ihr wahrer Name, mit Didi und Anuschka zwei Jahre bei Nonnen in einem Kinderheim. Nie durften die Kinder nach ihren Familien fragen, nicht weinen. Als sogenannter Mischling ist Malika eine Romni und spricht auch ihre Sprache.
Miriams Erinnerungen werden nicht chronologisch erzählt, sie springt zwischen den Erinnerungen hin und her, erzählt von Frauen und Männern, die in ihrem Leben wichtig waren, ohne genau zu benennen, wo und wann sie sie kennengelernt hat. Aber nach und nach setzt sich der steinige Lebensweg Miriams zusammen, von dem zu lesen, stellenweise schwer zu ertragen ist. Auch Camilla muss zeitweilig innehalten und sogar mit sich selbst ins Gericht gehen.

„Ausgerechnet den Splitter der Fremdenfeindlichkeit. Es war schließlich Camilla selbst, die Miriam in die Richtung ihrer finsteren Vergangenheit gestoßen hat, sie war es, die ihre Großmutter dazu gebracht hat, ihre Lügen zu offenbaren und sich an das Widerwärtige zu erinnern ….“

Als Kinder werden Miriam, Didi und Anuschka ins Zigeunerlager von Auschwitz deportiert und erleben dort unvorstellbare Demütigungen, Hunger, Hass und brutale Gewalt. Miriam lebt für den kleinen Didi, der im Lager auf qualvolle Weise umgebracht wird. Sie greift sich, weil ihre Sachen so zerlumpt sind, die Jacke von einem toten Mädchen, das Miriam Goldberg hieß. Miriam, die nichts über den Verbleib ihres Vaters weiß, noch der anderen Bewohner aus dem Ort, zeigt nie ihre Angst, sie will nur überleben und der Hölle entkommen. Trotz all dem unbeschreiblich Grausamen, das unschuldige Menschen unter der Hitlerdiktatur ertragen mussten, erfährt Miriam auch Zuneigung, Solidarität und Freundschaft. So kümmern sich norwegische Frauen, vor allem Else, um Miriam, die alle für eine Jüdin hielten. In Schweden gelangt Miriam unter die Fittiche von Hanna, bei der sie als Dienstmädchen arbeitet und doch so viel lernt. Vorurteilen und stumpfsinnigen Ansichten gegenüber Zigeunern wird Miriam, egal wo und wann, immer wieder begegnen. Als Zigeunerin hätte sie nicht in Schweden einreisen dürfen, als Romni hätte sie auch später einen schweren Stand in dem Land, in dem es Pogrome gegen Zigeuner gab. Hätte sie über sich sprechen können, über das was ihr nicht nur in Auschwitz, sondern auch im Konzentrationslager Ravensbrück widerfahren ist, vielleicht hätte sie den Mut gefunden, zu sagen, wer sie wirklich ist. Aber keiner wollte von Miriams Vergangenheit etwas hören, Hanna nicht und Miriams Ehemann Olof schon gar nicht.
nEr war froh, eine Mutter für sein Kind gefunden zu haben, und auf seine Weise hat er sie vielleicht auch geliebt.

nDas gut recherchierte Buch der schwedischen Autorin Majgull Axelsson legt man schweren Herzens aus der Hand, denn nach wie vor ist klar, dass Menschen auf der Flucht, im Ringen ums nackte Überleben Stärke zeigen müssen und auf Menschen treffen müssen, die ihnen vorbehaltlos helfen. Aber nicht nur die wechselvolle Lebensgeschichte von Miriam fesselt den Leser, es ist auch Majgull Axelssons Sprache, die in bewegenden und anschaulichen Bildern erzählt und berührt.