Helene Flood: Die Witwe, Aus dem Norwegischen von Sylvia Kall, btb Verlag, München 2025, 352 Seiten, €17,00, 978-3-442-75899-9

„Die anderen Gegenstände habe ich verschwinden lassen. Das Fahrrad, die Tablettenschachteln und das Pillenglas. Das Stück Gasschlauch und die Überreste des Terminkalenders. Es war nicht leicht, sich dazu durchzuringen, aber es war notwendig. Nachdem es erst mal erledigt war, war es eine Erleichterung.“

Helene Flood ist eine genaue Beobachterin der norwegischen Gesellschaft. Sie hat sich einen spannenden psychologisch überzeugenden Thriller ausgedacht, der von Menschen erzählt, die glauben, alles würde ihnen zustehen. Es geht um Oberflächlichkeiten und die Außenansicht, für die sogar getötet wird.
Evy Krogh steht unter Schock als sie plötzlich von einer Sekunde zur anderen Witwe wird. Die Sechsundsechzigjährige kann nicht fassen, dass ihr Mann nach einem Fahrradunfall so schnell verstorben ist. Als Ich-Erzählerin hat sie die Oberhoheit über das geschilderte Geschehen und sie wird sich zum einen an ihre Vergangenheit erinnern und zum anderen von der Gegenwart, der Zeit der Trauer und völlig neuen Erkenntnissen berichten. Zeitversetzt jedoch springt sie in ihren Erinnerungen auch zwischen verschiedenen Tagen nach dem Unfall hin und her. Seltsam ist aber auch, dass Evy, auch wenn sie noch nicht so alt ist, vieles durcheinander bringt. Außerdem wissen die Lesenden, dass sie sich aus ihrem eigenen Haus vor einem gelegten Feuer gerettet hat.
Geschickt schildert Helene Flood das Leben einer gutsituierten norwegischen Familie. Evy und ihre Mann Erling lernen sich früh kennen, Evy arbeitet kurz als Lehrerin, um sich dann den drei Kindern Bård, Hanne und Silje zu widmen. Erling ist der sparsame Ernährer der Familie, Evy die sich langweilende Ehefrau, insbesondere als die Kinder ins Teenageralter kommen. Alle wohnen im ehemaligen Haus von Evys Schwiegereltern, in dem immer die dröhnenden Schläge der Großvateruhr erklingen und die schweren Möbel die Stimmung trüben. Nur ein einziges Mal kann Evy der Umklammerung des Alltags entfliehen, als sie einen Französischkurs in Paris absolvieren darf. Die Kosten musste nicht Erling, der in vielem sehr stur sein konnte, tragen. Außerdem hatte Evy als Kinderbuchautorin Erfolg, aber nur für drei Ausgaben, die sich durch den langsam berühmt gewordenen Illustrator verkauften. Erstaunlich jedoch ist, dass Erling seinen sicheren Job vor einem Jahr aufgegeben hatte, um sich für den Klimaschutz einzusetzen. Im Laufe der Geschichte wird auch klar, warum die sechsundsechzigjährige, durchaus gesunde Evy unter Unkonzentriertheit und vor allem Gedächtnisverlust leidet. Sie ist offenbar Alkoholikerin. Ihr Mann hat sie nie kritisiert, ihre Kinder haben es wohl peinlich berührt gemerkt.
Seltsam ist, dass Erlings Leichnam obduziert wurde. Kurz danach steht die Polizei bei Evy vor der Tür und fragt sie, wo das Fahrrad sei und vor allem, warum Erling seine Herzmedikamente nicht mehr genommen hat. Der Terminkalender von Erling ist ebenfalls verschwunden und Evys Mann hatte vor Kurzem sein Testament geändert. Dann taucht auf der Beerdigung ein ehemaliger Studienfreund, Edvard Weimer, von Erling auf, der behauptet, dass sich Evys Mann bedroht gefühlt hat. Angeblich wusste er, wer ihm schaden wollte und er habe Maßnahmen ergriffen.
Schritt für Schritt erkundet Helene Flood die Abgründe einer gutbürgerlichen Familie, in der die Kinder eine glückliche Kindheit hatten und nun eigene Familien. Doch nichts ist so, wie es von außen zu sein scheint. Als Evy nüchtern nach und nach ihre drei Kinder befragt, offenbaren diese existentielle Probleme. Niemand hat je mit ihr gesprochen, weder ihr Mann noch die Kinder. Auch die Testamentseröffnung lässt Evy staunen, denn sie wurde als Alleinerbin für die Immobilien, die ihr Mann ohne ihr Wissen gekauft hat, eingesetzt und für ihre Kinder bleiben nur ein paar Kronen. Nach diesem Schock stellt Evy fest, dass auch sie um ihr Leben fürchten muss. Doch warum wollte ihr rational denkender Mann nicht, dass die Kinder etwas erben? Evy spürt immer mehr, dass sie ohne Erling, der ihr zwar fehlt, in vielerlei Hinsicht erkennen muss, wer sie selbst eigentlich ist. Und sie fragt sich, wie gut sie eigentlich ihre Kinder und deren gegenwärtiges Leben kennt.
Nur durch drastische Maßnahmen kann sie sich retten und dazu gehören Erkenntnisse, die sie sich nie hätte träumen lassen.

Spannend!