Nathan Hill: Geister, Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence und Kathrin Behringer, Piper Verlag, München 2016, 864 Seiten, €25,00, 978-3-492-05737-0
„Faye konnte sich an nichts erinnern, aber sie wusste, was passiert war. Sie wusste ganz genau, was passiert war. Sie hatte den Geist beleidigt, und der Geist hatte sie geholt. Der Geist war mit ihrem Vater aus dem alten Land gekommen, und jetzt verfolgte er sie. Das war der Moment, der ihre Kindheit veränderte und sie auf einen Weg brachte, der alles, was danach kam, die Anfälle, die Katastrophe in Chicago, ihr Versagen als Mutter, der das alles unausweichlich erscheinen ließ. Jedes Leben habe einen Moment wie diesen, ein Trauma, das einen in neue Teile zerbricht.“
Als Samuel elf Jahre alt ist, verlässt seine Mutter Faye ihn und ihren Mann Henry, einen Tiefkühlkostvertreter, mit dem sie in einem Vorort lebt. Langsam hat sie alle Dinge, die sie benötigt aus dem Haus geschafft. Irgendwann geht sie einfach nur mit einem Koffer, nachdem sie ihrem Sohn liebevoll übers Gesicht gestrichen hat. Das sind einprägsame Szenen, die Nathan Hill unnachahmlich gut in seinem erzählerisch ausufernden Roman, so dick wie ein Backstein, schildert. Gute zwanzig Jahre später, 2011, wird Faye den Gouverneur und Präsidentschaftskandidaten Packer, der durch seine populistischen beleidigenden Reden auffällt ( Wer denkt da nicht an den neuen Präsidenten der USA Donald Trump?), öffentlich mit Steinen bewerfen. Wer ist diese Mutter, was ist in ihrem Leben geschehen? Warum hat sie ihren Sohn verlassen?
Samuel Andresen arbeitet als Professor für Literatur an einem kleinen College außerhalb von Chicago. Er hat den Kontakt zu seiner wahren Liebe, der erfolgreichen Geigerin Bethany verloren und spielt mit Vorliebe, und das auch noch an seinem Arbeitsplatz, das Computerspiel „World of Elfscape\“, das auch 12-Jährige begeistert, ärgert sich mit Studentinnen herum, die lügen und betrügen, wenn es um zu erbringende Leistungen geht und hat vor zehn Jahren nach einer veröffentlichten Geschichte einen großzügigen Honorarvertrag für einen Roman unterschrieben, der nie zu Papier gebracht wurde. Dieses Übereinkommen mit einem großen Verlag wird ihm nun zum Verhängnis, denn der Verleger erwartet von Samuel eine reißerische Geschichte über seine inhaftierte Mutter, mit der er sich aus den Schulden beim Verlag freikaufen könnte. Über einen Anwalt, Samuel soll für seine Mutter einen freundlichen Brief an den Richter Charlie Brown schreiben, kommt ein erster Kontakt zustande. Seltsam unnahbar wirkt die nun 61-jährige Faye auf den Sohn, kalt, distanziert, wortkarg, dabei liebt sie die Literatur und lebt mehr recht als schlecht vom Gedichte vorlesen. Über die Presse gelangen Informationen über die Vergangenheit der Mutter im Studentenmilieu der 1968er Jahre an die Öffentlichkeit.
Nach und nach blättert der amerikanische Autor Nathan Hill in seinem opulenten Debütroman die Familiengeschichte der Mutter auf. Im Perspektivenwechsel erfährt der Leser einiges von Samuel, aber auch Faye. Alle Fäden führen zurück in die Geschehnisse während der Studentenzeit von Faye und verknüpfen sich völlig neu in der Gegenwart.
Schön schaurig und auch abgrundtief verstörend waren die Geschichten von Geister, sogenannten Nissen, die sich Faye von ihrem Vater, der aus Norwegen stammt, anhören durfte. Schwierig war die Beziehung zum traurigen Vater, der ein dunkles Geheimnis hütet und nun in seiner dementen Umnachtung darüber nicht mehr sprechen kann. Faye wird allem auf die Spur kommen, auch sich selbst und ihren Fluchten, die scheinbar familiär vorgeprägt sind.
Alle Figuren in diesem Roman sind auf die eine oder andere Weise, die Hauptfiguren nicht ausgenommen, korrumpierbar. Ein erschütterndes Gesellschaftsbild, das einen verzweifeln lassen könnte, wäre da nicht die Leichtigkeit dieses Romans, der den Leser in weitschweifige, zahlreiche Verzweigungen und Beschreibungen unterschiedlichster Bereiche wie Politik, Irak-Krieg, Hochschulwesen, Computerspiel-Community oder Verlagswesen entführt. Und doch immer zum Eigentlichen zurückkehrt, dem schwierigen Mutter-Sohn-Verhältnis.
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