Jean–Claude van Rijckeghem, Pat van Beirs: Galgenmädchen, Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2014, 493 Seiten, €19,95, 978-3-8369-5463-1

„Nun, der Herr von Vuylsteke kann von mir aus die heilige Scheißerei bekommen. Und der Prinz von Oranien auch. Nach Spanien gehen, um zu spionieren! Ja, warum dann nicht in einen türkischen Harem? Ich bleibe in Flandern, wo ich die Wege, die Hügel, die Wälder, die Herbergen und die Verstecke kenne. Ich komme schon durch.“

Aber die 15-jährige Gitte, eine geschickte Beutelschneiderin in Jungsklamotten, wird sich der Staatsgewalt beugen müssen, denn kaum dem Galgen in Antwerpen wegen mehrmaligem Diebstahl und Einbruch entkommen, bleibt ihr nur diese eine Rolle im großen Weltgetriebe zwischen der katholischen Weltmacht Spanien und der kleinen Niederlande. Behauptet sie nicht immer, ihr Vater sei der spanische Herzog von Almandraje. Zumindest hatte es so ihre Mutter, genannt Rosse, ihr erzählt. Mit fünf Jahren, 1572, gibt sie die kleine Gitte ohne ein Wort des Abschieds in einem Mädchenhaus ab. Aber Gitte, Kind einer Herbergsbediensteten und Hure, setzt sich mutig, schlagfertig und lebensklug durch. Gittes Weg jedoch führt sie nicht als Dienstmagd in ein hochherrschaftliches Patrizierhaus, sie landet nach zehn Jahren Heimarbeit bei einem reisenden Quacksalber und seinen Leuten. Auch Karel, der Kirchenpisser ist dabei. Von ihm wird Gitte entgegen ihrer bibeltreuen Erziehung das perfekte Stehlen und Lügen erlernen.

In einem unaufmerksamen Moment jedoch wird Gitte gefasst. Johannes Vuylsteke, der junge, mitleidige Stellvertreter des Vogts, kann Gittes Hinrichtung in letzter Sekunde verhindern. Ein Offizier, Simon Hendrikszoon, behauptet laut seinen Papieren müsste der jungen Frau der Prozess in Spanien gemacht werden, da ihr Vater dort lebe. Hinter dem Schauspiel steckt allerdings ein ausgeklügelter Plan. Gitte soll für den Prinzen von Oranien in Sevilla bei ihrem vorgeblichen Vater spionieren.

Der Herzog von Almandraje verkehrt im Haus der Ozeane und verfügt über die Weltkarte, in der alle wichtigen Seewege und spanischen Stellungen eingezeichnet sind. Immer wieder wird die Niederlande von Spanien angegriffen, obwohl das Land nun seit drei Jahren unabhängig ist. Erst versucht Gitte sich aus den Fängen ihrer Häscher zu befreien, doch sie hat, besonders nachdem sie ein Brandmal mit einem Galgenstrick eingebrannt bekommt, keine Chance.

Geschickt und mit viel Glück überzeugt die junge Frau, sie hat einige Monate in einem Kloster die spanische Sprache erlernt, ihre „Familie“ von ihrer wahren Herkunft, zumal sich der Herzog an Gittes Mutter erinnert.

Eingebunden in eine wohlhabende, stolze und hoch angesehene Familie genießt Gitte ihre Dasein ohne Sorgen und gewöhnt sich an den Luxus. Sie gewinnt sogar die Sympathie der kinderlosen, eifersüchtigen Ehefrau ihres Vaters, Dona Urraca. Gitte denkt pragmatisch und gibt nur so viele Informationen heraus, wie sie auch vertreten kann.

Doch als sich Gitte in den Neffen ihres Vaters, den gutaussehenden Don Domingo, verliebt und ihn heiratet, verliert sie jegliche Vorsicht und ihr Stern sinkt. Der Ehemann entdeckt ihr Brandmal und ihre wahre Identität. Aber Gitte, nah dem Tod durch den Strang, wird sich erneut herauswinden können. Nur mit der Weltkarte im Gepäck kann sie in die wiederum von Spaniern bedrohte Stadt Antwerpen zurückkehren.

Bei Jean Claude van Rijckeghem und Pat van Beirs ( „Die Erbin von Flandern“, ebenfalls Gerstenberg Verlag), die auch als Drehbuchautoren erfolgreich sind, dienen die Ereignisse um Gittes Leben am Ende des 16. Jahrhunderts nicht als Kulisse. In ihrer szenisch starken Prosa wird stilistisch perfekt ein plastisches Bild der damaligen Verhältnisse mit psychologisch genau gezeichneten Figuren geschildert. Unterhaltsam, spannend und vor allem nie, auch nicht eine Passage langweilig liest sich diese atemberaubende, atmosphärisch dicht geschriebene Abenteuergeschichte von einem sicher aus unserer Sicht modernen, lebensmutigen und autonom handelnden Mädchen auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Sie mag naiv, unerfahren und blauäugig in bestimmte Situationen geraten, sie schafft es immer wieder, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Mit Gitte gemeinsam kann man über die Märkte der Niederlande wandeln, am Hafen von Sevilla stehen und alles riechen, schmecken und fühlen. Ganz nebenbei vermitteln die Autoren des backsteindicken Romans viele historische Fakten und Zusammenhänge, die das Bild von Zeit und Menschen abrunden.