Max Küng: Fremde Freunde, Kein & Aber Verlag, Zürich 2021, 500 Seiten; €25,00, 978-3-0369-5838-5
„Nach den letzten fünf Tagen musste er zugeben, dass er echt ein Händchen bewiesen hatte, und zwar eins fürs Danebengreifen. Anstatt insolvente Interessenten hatte er eine Horde von Verrückten in sein Haus eingeladen. Eine Esotante, einen erfolglosen Schauspieler, zwei Scheidungswillige.
Vielleicht mussten Jaqueline und er eine zweite Casting-Runde starten, in den Frühlingsferien – wenn bis dahin das Hausdach noch nicht eingestürzt war.“
Je älter man wird, um so schwieriger wird es, wirklich Freunde zu finden. Vielleicht trinkt man mal ein Bier mit einem Sportkumpel oder trifft sich auf einen Kaffee mit einer Kollegin, aber Freundschaften entsteht eher selten. Doch der Frankophile Jean geht das Risiko ein. Er hat für eine Woche zwei Elternpaare, die er und seine Frau Jacqueline durch seinen zwölfjährigen Sohn Laurent kennengelernt haben, in den Herbstferien in sein großes Haus nach Frankreich eingeladen. Alle stammen aus Zürich und so war der Weg in die französische Grenzregion nicht weit. Am Rande eines Dorfes gleich an einem Kanal gelegen ist das hundertjährige Haus ein Schmuckstück mit Garten und vielen Apfelbäumen. Diese großzügige Einladung haben Jean und seine Frau jedoch nicht ohne Hintergedanken ausgesprochen. Beider Werbeagentur läuft nicht mehr besonders und einen Mitinvestor am Haus benötigen die beiden dringend, denn sie müssen sich finanziell sehr einschränken. Die Dorfbevölkerung interessiert das Schweizer Paar aus der guten Mittelschicht nicht sonderlich. Sie sind sich selbst genug und konzentrieren sich auf die Bewirtung ihrer Gäste, die wie Gott in Frankreich schlemmen sollen.
Alle sechs Erwachsenen verbringen nun zum ersten Mal Zeit miteinander und kaum angekommen, entstehen auch schon die ersten Animositäten. Jean hatte von jedem Paar eine bestimmte Vorstellung, doch nach und nach bröckeln die Fassaden. Der Zahnarzt Bernhard erträgt den extrovertierten wie geschwätzigen Schauspieler Filipp nur in Maßen, die feinsinnige Sängerin Salome schämt sich für ihren teils auch vulgären Mann Filipp, Jean will es allen recht machen, kocht die besten Paul Bocuse-Gerichte und gibt sich generös. Veronika, die dünne und unterkühlte Frau von Bernhard, nervt die pausenlose Esserei, die geschmacklose Einrichtung des Hauses und die simple, ständig lächelnde Jacqueline. Diese ärgert, dass Veronika nicht mal den Tisch mit abräumt und sich auf keine Gespräche wirklich einlässt.
Die Schulfreunde Laurent, Quentin und Denis verschanzen sich hinter ihren Computerspielen und verlassen nur unter Protest das Zimmer.
Der Schweizer Autor Max Küng fängt auf ab und zu doch witzige wie unterhaltsame Weise den Zeitgeist ein und gibt allen plastischen Figuren eine innere Stimme. Bestimmte Momente, ob in Gesellschaft oder allein, lösen Erinnerungen und Reflexionen über Vergangenes bei allen aus. So erfährt der Leser mehr über die Gäste als der Gastgeber Jean und schnell wird klar, dass sein ausgeklügelter Plan nicht funktionieren kann. Veronika und Bernhard leben nach vierzehn Jahren Ehe in Scheidung. Sie mimen das harmonische Paar für den Sohn. Filipp und Salome sind nicht verheiratet, haben aber zwei Kinder und scheinen glücklich zu sein. Als nicht gerade erfolgreicher Schauspieler hat Filipp Affären und lebt stolz eher mit Existenzängsten, als dass er auch mal einen Werbespot drehen würde. Was nicht gerade seine Selbstbewusstsein fördert ist die Tatsache, dass Salomes extrem reiche Eltern trotz Aversionen gegen den Schwiegersohn die Familie finanziell über Wasser halten. Die leicht esoterisch angehauchte, leicht versponnene, auf Perfektion getrimmte Salome scheint in ihrer eigenen Welt zu leben. Filipp erkennt langsam, dass er Salome doch heiraten sollte. Nicht aus Liebe, aber aus dem Kalkül heraus, dass sie als Einzelkind einmal wirklich viel Geld erben wird.
Sympathisch kann man die Gruppe nicht unbedingt finden. In Gesprächen und auch alkoholisiert offenbaren sie vieles, was die Generation der 40-Jährigen belastet und ihren Alltag bestimmt. So füttern die Mütter ihre Söhne mit Pillen, damit sie sich besser konzentrieren können und das Gymnasium schaffen.
Sehr langsam geschehen dann von Tag zu Tag seltsame Dinge im Haus. Plötzlich liegt eine tote Ratte im Bad, Salomes Kette verschwindet, die Haustür steht nach einem Ausflug sperrangelweit offen, Filipps Auto wurde mit Farbe unflätig beschmiert und dann erklingt eines Nachts laute Musik und niemand im Haus hat den Plattenspieler bedient. Panik entsteht!
In kurzen Kapiteln erzählt Max Küng die Geschichte dieser Herbstferien, in denen die Natur aufblüht, die Äpfel reif sind und sich langsam der Winter anschleicht. Einer Inselsituation gleich verbringen drei Familien ihre Ferien in einem Haus und bleiben sich doch fremd. Engstirnigkeit und Bitternis treffen auf Gutmütigkeit und Schauspielerei. Jeder stellt nach außen etwas dar, was er in Wirklichkeit nicht ist. Zu einem Team wachsen die sechs Erwachsenen nicht zusammen, auch nicht in der Gefahr.