Anke Stelling: Erna und die drei Wahrheiten, cbt in der Verlagsgruppe Random House, München 2017, Seiten, € 12,99, 978-3-570-16458-7
„Wahrheit Nummer eins: Misch dich ein, sonst bist du schuld, wenn etwas Schlimmes passiert.
Wahrheit Nummer zwei: Halt dich raus, sonst bist du schuld, wenn jemand rastet – daraufhin was Schlimmes passiert.
Wahrheit Nummer drei: Geh davon aus, dass egal, was du tust, du der Arsch bist. Weil es Richtig oder Falsch nicht gibt beziehungsweise die Grenze, die es trennt, leider fließend ist. Was für ein Irrsinn!“
Die elfjährige Erna, die ihren Namen wirklich blöd findet, – Emma ist viel schöner, auch wenn viel zu viele Mädchen so heißen -, hat es nicht leicht. Sie wohnt in einem Gemeinschaftshaus, wo zwischen den Nachbarn alles besprochen werden soll und sie geht in eine Gemeinschaftsschule, in der auch die Schüler ziemlich viele Konflikte eigenständig regeln müssen. Doch was fängt man als Kind mit so viel Freiheit an und wie geht man mit den ständigen Kompromissen um, die gefunden werden müssen, um miteinander klarzukommen?
Um sich die Welt zu erklären, versucht Erna einzelnen Wörtern und deren Bedeutung auf den Grund zu kommen. Sie diskutiert mit ihrer Mutter, die sie Annette nennt und spürt auch die Veränderungen, die sich einstellen, wenn sie an ihre Freundinnen denkt. Rosalie aus dem Haus war lang ihre beste Freundin bis sie es nicht mehr war. Auch Annette hat sich mit Leuten aus dem Haus, aus den verschiedensten Gründen, verkracht. Rosalie hat die Suche nach Kompromissen und Gerechtigkeit für sich geklärt. Sie belügt ihre Eltern, wenn diese etwas konsequent durchsetzen wollen. Und sie hat wenig Lust immer alles für alle zu machen. Warum soll sie einen Film sehen, den auch die kleinen Kinder im Haus sehen wollen? Warum ist das Baumhaus verwaist, weil die Kinder und Eltern es nicht hinbekommen, alles gemeinsam zu veranstalten. Gerechtigkeit, Kompromisse, Verantwortung für die Gemeinschaft, Rücksichtnahme, aber auch Egoismus – große Worte.
Erna quält sich auch mit der falschen Rücksichtnahme, die den Kindern auferlegt wurde. Warum müssen alle in der Klasse auf Mattis, der sowieso macht, was er will, Acht geben? Seine dummen Sprüche und seine Aggressivität vergiften das Klima in der Klasse, seine Verhalten bringt Erna in arge Gewissenskonflikte. Wann ist man eine Petze, wann soll man die Wahrheit sagen? Immer wenn Erna sich einmischt, hat sie das Gefühl, die anderen Mädchen in der Klasse mögen sie nicht mehr. Und dann sind da noch Ernas angebliche dicke Schenkel, der falsche Trost der Eltern und ein Junge, der Erna Rätsel aufgibt.
Es sind diese Beobachtungen des Kindes, die andere Kinder bei der Lektüre sicher auch beschäftigen werden. Bereits in „Bodentiefe Fenster“ hatte Anke Stelling ihr Leben in einem Gemeinschaftshaus im Prenzlauer Berg mit allen Vor- und Nachteilen beleuchtet. Jetzt betrachtet sie aus der Kindersicht die Konflikte, die sich einstellen, wenn alle es allen recht machen wollen und nicht können, wenn einzelne ihre Anliegen in den Vordergrund schieben und sich dann doch aus der Gemeinschaft entfernen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht aber auch Ernas Verhältnis zu ihrer Mutter, die immer alles besprechen will und letztendlich im entscheidenden Moment, auch aus Überforderung oder Hilflosigkeit, nicht auf der Seite ihres Kindes steht. Sicher kann man vieles erklären, aber wo sind die Grenzen, wenn es um Kompromisse geht? Wie ehrlich sind die Lehrer den Kindern wirklich gegenüber? Erna durchschaut auch hier, dass die Lehrer eine Maske der Toleranz tragen, die schnell abgenommen wird, wenn es darum geht, wer wirklich das Sagen hat.
Am liebsten würde Erna auf ein Gymnasium mit klaren Regeln gehen, wo nicht alles mit allen besprochen wird.
An Ernas Seite, die im Laufe der Geschichte zu vielen Erkenntnissen gelangt, durchlebt der Leser eine Alltagsgeschichte, die zum Nachdenken anregt. Eines jedoch ist seltsam in einem Buch, in dem die Bedeutung von Worten so wichtig ist und das ist die Verwendung des Wortes „rasten“. Rasten steht ja eigentlich für ausruhen, pausieren oder einkehren. Bei Anke Stelling wird es immer dann benutzt, wenn jemand ausrastet, also die Nerven verliert. Das irritiert beim Lesen und ist inhaltlich nicht nachvollziehbar.
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