Emily Gunnis: Die vergessenen Kinder, Aus dem Englischen von Ute Brammertz und Carola Fischer, Heyne Verlag, München 2024, 448 Seiten, €22,00, 978-3-453-27496-9

„ Sie musste ins Jahre 1975 zurückkehren, um herauszufinden, was sich wirklich zugetragen hatte. Zurück zu dem Zeitpunkt, als sie den Fundort von Gemma Smiths Leiche, die verrenkt auf den Felsen von Morgate House gelegen hatte, abgesperrt hatte. Zurück zu dem Tag von Gemmas gerichtlicher Untersuchung, die sie als Zwanzigjährige ohne nennenswerte Berufserfahrung besucht hatte.“

Joanna Hamilton ist mit Herz und Seele Polizistin, die allerdings immer wieder von ihren männlichen Kollegen in Sussex ausgebremst und in bestimmten Situationen auch allein gelassen wird. Auch an dem Tag als der Hilferuf von einer Nachbarin der Familie Moore sie erreichte. Jo, wie sie genannt wird, fährt zum Haus der Familie und muss von außen beobachten, wie Mr. Moore seine Frau fast bewusstlos schlägt. Die beiden Kinder, Holly und Daisy, schauen hilflos zu. Als Jo sich Eintritt ins Haus verschafft, löst sie ungewollt einen Brand aus. Am Ende sind die Eltern tot und die Mädchen werden ins Kinderheim Morgate House nahe der Küste verfrachtet. Diesen Tag wird Jo nie vergessen, und sie wird sich immer die Schuld an den Geschehnissen geben. Zwar versucht ihr Bruder Charlie, ebenfalls Polizist, ihr dies auszureden, doch die Erinnerung bleibt. Und dann ist da noch der Fall Gemma Smith. Auch die fünfzehnjährige Gemma Smith lebte im Kinderheim, dass die Familie Price betreibt, deren Sohn Philipp ebenfalls bei der Polizei arbeitet. Es scheint so, als sei das mürrische und empathielose Ehepaar Price unantastbar. Als Jo versucht, auch mit dem Jugendamt zumindest zu kontrollieren, ob mit den anvertrauten Kindern alles in Ordnung ist, stößt sie auf Widerstand, auch aus den Reihen der Polizei. Und als Jo Gemma nach einem Diebstahl wieder ins Heim fährt, sagt das sehr couragierte Mädchen ihr deutlich ins Gesicht, dass sie es dort nicht einen Tag mehr aushalten kann.
Durch die unterschiedlichen Perspektiven der handelnden Figuren, die auch zeitlich versetzt sind, wissen die Lesenden mehr als Jo. Sie wissen, dass Gemma Lebensmittel stiehlt, damit die Kleinen etwas zu essen haben und sie wissen, dass Gemma schwanger ist und der Vater offensichtlich ein Polizist ist, der eine Familie hat und sich an die schutzlosen Mädchen heranmacht.
Die Handlung setzt dann wiederum vierzig Jahre später ein und Jo, die nun Superintendent ist, steht kurz vor ihrer Pensionierung. Genau in ihrer letzten Woche finden Bauarbeiter bei ihrer Arbeit am Wasserturm menschliche Knochen. Jo ahnt, dass dies die Überreste der 1985 verschwundenen Holly sein könnten.
Als Holly damals aus dem Kinderheim verschwand, gab es kaum intensive Untersuchungen. Jos Vorgesetzter, Carl Webber, kümmerte sich wenig um diesen Fall, auch wenn Hollys Schwester Daisy Jahr für Jahr die Polizei an ihre vermisste Schwester erinnerte. Als Gemma damals zu Tode kam, hieß es, sie habe sich das Leben genommen. Jo zweifelte. Als Holly verschwand, war Jo die einzige, die mit Suchplakaten nach ihre fahndete. Dabei musste die Polizistin immer aufpassen, dass sie ihren männlichen Kollegen nicht in Quere kam, insbesondere ihrem Chef Webber. Er ist es auch, der alles daran setzt, dass Jo im Fall der gefundenen Knochen nicht recherchiert.
Doch jetzt kann sich Jo nicht zurückhalten, denn sie glaubt, dass sie zumindest Daisy etwas schuldig ist. Dabei liegt Jos Mutter Olive im Sterben und die Tochter müsste an ihrem Bett sitzen. Alle Frauen in der Familie von Jo haben untereinander ein wirklich schlechtes Verhältnis. Jo fühlt sich von der Mutter nicht geliebt und nur gegängelt, und Jos Tochter Megan erwartet von Jo, dass sie sich als Rentnerin bald um ihre Enkeltochter kümmern würde. Doch Jo liebt ihren Beruf, sie kann nicht loslassen und wird am Ende auf eine für sie schreckliche Wahrheit stoßen.

Absolut spannend liest sich dieser Krimi von Emily Gunnis, denn die englische Autorin verbindet nicht nur die Fälle um Gemma und Holly mit den Verfehlungen der britischen Gesellschaft, sondern sie thematisiert auch die schwierige private wie berufliche Situation einer Frau, die leidenschaftlich gern als Polizistin arbeitet und daran gehindert wird. Und es geht um Macht, die Menschen ausüben können, wenn niemand ihnen Einhalt gebietet.