Astrid Rosenfeld: Elsa ungeheuer, Diogenes Verlag, Zürich 2013, 288 Seiten, €21,90, 978-3-257-06850-4
„Noch immer wollte ich, dass Lorenz und sie die gleichen Wege einschlugen, aber seit jener Berührung sehnte ich mich danach, an Elsas Seite zu gehen und nicht hinter den beiden.“
Als die Handlung Ende der 1980er Jahre einsetzt, haben die unzertrennlichen Brüder Karl und Lorenz Brauer bereits vieles hinter sich. Ihre holländische Mutter Hannah, im oberpfälzischen Ort als verrückt verschrien, nimmt sich das Leben. Der untröstliche Vater, der ein „Fast-Hotel“ für Sommergäste betreibt, vergräbt sich in seinem Kummer und fängt an zu trinken. Streng beaufsichtigt von der humorlosen, uralten, so meinen die Kinder, Frau Kratzler suchen die Jungen Zuflucht bei ihrem Dauergast, Herrn Murmelstein, den alle Murmeltier nennen. Er erzählt den Kindern von seinen amourösen Liebesabenteuern, die ihm angeblich seine Karriere verbaut haben. Das Murmeltier beugt sich nie zu den Kindern herab, er behandelt sie auf Augenhöhe und prägt mit seinen seltsamen Sexgeschichten, bei denen sie sich auch mal die Ohren zuhalten müssen, ihre Vorstellungswelt.
Als die mutige, wie rebellische 11-jährige Elsa mit ihren spindeldürren Armen, dem verkniffenen Gesicht und dem lauten Mundwerk auftaucht, verliebt sich der Erzähler dieser Geschichte, der dicke Karl Brauer, in das einsame Mädchen. Karls Blick jedoch ist nie ein objektiver oder die Ereignisse durchschauender, er bleibt der Zaungast der kommenden dramatischen Ereignisse. Von der Mutter beim Vater, der nicht mal sicher ist, ob er das wirklich ist, zurückgelassen, fühlt sich Elsa in dem verhassten Dorf von allen zurückgestoßen. Mit den viel zu großen damenhaften Kleidern ihrer Mutter stolziert Elsa wie eine Königin durchs Dorf. Der ungeduldige Lorenz scheint anfänglich kaum Gefallen an der Neuen zu finden, setzt sich aber immer für sie ein, wenn jemand sie angreift. Das schwierige, frühreife Kind stiftet Karl zum Klauen an, kloppt sich mit Lorenz und hält doch loyal zu den Brüdern.
Niemand im Dorf ahnt es, Karl scheint auf dem Auge blind, entsteht eine enge Bindung zwischen Elsa und Lorenz. Als Karl Elsa eine Kette von seiner Mutter schenkt, niemand weiß, ob der Anhänger einen Wolf oder einen Hund darstellen soll, ist auch er an sie im wahrsten Sinn des Wortes gekettet:„Flüchtig, vielleicht nicht einmal mit Absicht, streiften ihre Lippen meine Wangen. Eine Berührung, von der ich mich nie wieder erholen sollte.“
Viele Jahre später wird Lorenz durch die Verbindung zu einer Kunstmäzenin, der Kontakt entstand durch seinen holländischen Onkel, ein bekannter Maler. Lorenz hat zwar künstlerische Visionen, versinkt aber doch im Strudel der Kunstchickeria, nimmt Drogen und verliert sein Ziel aus den Augen.
Karl, immer an der Seite seines Bruders, schlägt trotz bester Voraussetzungen, keinen eigenen beruflichen Weg ein, sondern lässt sich treiben und kann Elsa nicht vergessen. Mit 15 Jahren ist sie überraschend, auch wenn alle sie davon abbringen wollten, mit einem Mann aus dem pfälzischen Dorf in die USA ausgewandert.
Karl wird Elsa besuchen und alles verstehen, was er vor gut zehn Jahren nicht sehen wollte und konnte.
In Astrid Rosenfelds Handlung tauchen Kunstwerke auf, z.B. von Rembrandt, die es wirklich gibt und für die Figuren bedeutend sind, aber sie erfindet auch Installationen und Kunstwerke von fiktiven Künstlern. Sie schreibt über Hypes in der Kunstwelt, die niemand begründen kann und für deren Beurteilung die Richtlinien, ganz anders als bei Büchern oder Filmen, fehlen.
Astrid Rosenfeld ist eine ungeheuer anregende Erzählerin, deren exzentrische, wie bodenständige Figuren durch ihre zutiefst menschliche Seite überzeugen, ob es sich nun um das Murmeltier handelt oder Elsa, die ihrem eigenwilligen Charakter auch in der Ferne treu bleiben wird. Nie hat man das Gefühl, hier geht es um Effekthascherei oder gewollte Originalität. Die Autorin schreibt so anschaulich, das man beim Lesen glaubt, man sähe diese drei Kinder, wie sie die Dorfstraße hinunterlaufen und etwas aushecken.
Ein wunderbar berührender Roman!
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