Elizabeth Strout: Am Meer, Aus dem Englischen von Sabine Roth, Luchterhand Verlag, München 2024, 288 Seiten, €24,00, 978-3-630-87748-8
„Ich wusste nicht recht, was ich William gegenüber empfand. Meine Gefühle wechselten, es ging auf und ab mit ihnen wie Ebbe und Flut. Denn William war sehr oft auf eine Art abwesend, die mich an unsere Ehe erinnerte, daran, wie mich das immer gequält hatte.“
Wer den Roman „Oh, William“ von Elizabeth Strout gelesen hat, ist bereits mit ihren Protagonisten dieses Romans vertraut. Die Ich-Erzählerin Lucy Barton lebt weiterhin als erfolgreiche Autorin in New York. Ihr Kontakt zu ihrem Ex-Mann William ist freundschaftlich und zu den beiden erwachsenen Töchtern sehr eng. William ist bereits über siebzig und doch arbeitet er noch als Wissenschaftler. Er ist es dann auch, der vehement darauf dringt, dass Lucy mit ihm zusammen zu Beginn der sich anbahnenden Pandemie die Stadt verlässt. Auch Tochter Chrissy, die in Brooklyn wohnt, zieht mit ihrem Mann Michael, der Asthmatiker ist, ins Haus der Schwiegereltern, die in Florida sind, nach Connecticut. William hat ein Haus am Meer in Maine gemietet. Zu Beginn ist Lucy sehr skeptisch und kritisiert alles, woran sie sich nun neu gewöhnen muss, u.a. an den beißenden Salzgeruch des Atlantik. Als dann jedoch Freunde am Virus sterben und Manhattan zum Notfallgebiet erklärt wird, gewöhnt sich die Autorin an die sie schützende Umgebung. Lucy ist angesichts der beunruhigenden Umstände, nicht in der Lage zu lesen oder zu schreiben, denn die Sorge um die Kinder lähmt sie. Sie schaut ausnahmsweise die Nachrichten und verbringt mit William wie in alten Zeiten den Alltag. Sie kann am Meer spazieren gehen und wird ihr gesamtes Leben, was sie kaum bei der Abreise aus New York vermutet hatte, umkrempeln.
Als der Hass der Nachbarn auf die New Yorker sich langsam legt, gewinnt Lucy sogar in ihrem Nachbarn Bob Burgess, mit dessen Ex-Frau William mal etwas hatte, als Freund.
Lucy erinnert sich in dieser aufgezwungenen Leerlaufzeit, die zu Beginn mit ein paar Monaten angedacht war, an vieles, was bisher für sie nicht so wichtig war. Sie denkt an ihre erste Zeit mit William, an die Mädchen als sie noch Kinder waren und sie denkt über ihre von Armut geprägte lieblose Kindheit nach. William wird Kontakt zu seiner Halbschwester in Maine aufnehmen und auch wenn dieser Zeitabschnitt vom Tod gezeichnet ist, finden Lucy und William nach all der langen Zeit, Lucy führte eine sehr glückliche Ehe mit David, zueinander. Lucy träumt unendlich viel und sie legt sich in ihren Tagträumen eine liebende Mutter zu, deren Ratschläge sie scheinbar benötigt.
Keine Frage, dieses ruhige Jammern auf höchstem Niveau in der Corona-Zeit, die vielen Menschen die Existenz und auch das Leben genommen hat, nervt stellenweise und provoziert somit auch die Lesenden, an die eigene Zeit mit der Pandemie nachzudenken.
Die Klarheit mit der William seine Tochter und seinen Schwiegersohn vor den unbedarften Schwiegereltern rettet, die aus Florida zurückkehren und kaum daran denken, andere und sich selbst mit Masken zu schützen, beruhigt dann schon wieder.
Chrissie wird schwanger und sie wird erneut ihr Baby verlieren, ein tiefer Schmerz. Becka wird ihren Ehemann verlassen und zu neuen Ufern aufbrechen.
Von Stillstand keine Rede und doch hadert Lucy mit sich und allem um sie herum. Und dann stirbt auch noch ihr stiller und offensichtlich sehr einsame Bruder. Seine Schwester Vicky, die in der Corona Zeit zu Gott gefunden hat, niemand schützt sich in der Kirche, lädt ihn zu Thanksgiving ein.
Immer mit dem Blick auf das Zeitgeschehen erzählt die verlässliche Autorin Elizabeth Strout hintergründig und ruhig.