Elisabeth Herrmann: Blutanger, Goldmann Verlag, München 2024, 496 Seiten, €13,00, 978-3-442-49451-4
„Aber er war auch die unwichtigste Figur in diesem mörderischen Schachspiel, das mit Rochaden, Finten, falschen Angriffen und Täuschungsmanövern darauf hinarbeitete, einen Doppelmörder unerkannt davonkommen zu lassen.
Der Mörder war klug. Das fiel mir erst jetzt auf. Von großer Kaltblütigkeit und fähig, mehrere Züge im Voraus zu berechnen.“
Wenn Marie-Luise Hoffmann, Kanzleipartnerin des Berliner Anwalts Joachim Vernau, sich am Saisonende nicht in den Kopf gesetzt hätte, ein Spargelessen zu veranstalten, wären beide nicht mit einem Mordfall in Brandenburg konfrontiert gewesen. Zumal Vernau mit seinen italienischen Maßanzügen auf Gurkenäckern und Bauernhöfen völlig fehl am Platze ist. Als sie jedoch in Jessendorf ankommen und auf dem Hof einen heftigen Streit zwischen dem Inhaber, Christoph Grundmann, einer Gewerkschaftsfrau und dem rumänischen Saisonarbeiter Lucian Sandu mitbekommen, vergeht ihnen der Appetit auf Spargel, den sie auch im Supermarkt in ihrem feinen Berliner Kiez kaufen können. Da Vernau wiedermal Visitenkarten verteilt hat, ereilt ihn kurze Zeit später ein Anruf. Lucian Sandu hat in der Nacht Grundmann ermordet und steht zu seiner Tat. Vernau eilt nach Cottbus und versucht herauszufinden, warum der junge Student so vehement darauf besteht, schuldig zu sein. Wen will er decken? Da Vernau den Pathologen kennt, der sozusagen in die Provinz verbannt wurde, findet er heraus, dass es zwei Angriffe auf Grundmann gab. Einer war offensichtlich mit einem Messer, aber nicht tödlich und der andere jedoch wurde mit einem spitzen Spargelstecher ausgeführt. Vernau hat wenig Lust, auf die Ermittlungsergebnisse der Cottbusser Polizei zu warten und außerdem kann er ja den neuen Polizistenfreund von Marie-Luise für Hintergrundinfos befragen. Vernau beginnt mit eigenen Nachforschungen und lernt dabei die ziemlich attraktive Saisonarbeiterin Tina kennen, die Deutsch spricht und aus dem Gebiet der Banater Schwaben in Rumänien stammt. Alle Rumänen, die wochenlang auf den Feldern von Grundmann ackern, kennen sich ganz gut. Sie wissen auch, dass es Bauern gibt, die fair zahlen und ordentliche Unterkünfte und Verpflegung stellen, aber es gibt auch Bauern wie Grundmann, die mit fiesen Methoden ihre Arbeiter in existentielle Abhängigkeiten bringen, aus denen sie sich kaum befreien können. So zieht Grundmann die Pässe der Leute ein und zwingt sie zu unlauteren Verträgen, aufgrund denen sie Hungerlöhne beziehen. Schaut man genauer hinter die Fassade von Grundmann und seinem Schwiegersohn Michael Krebitz, dann stellt man fest, dass beide Männer haltlose Schläger sind und auch vor ihren Ehefrauen Barbara und Emilia nicht halt machen. Für Grundmann und seine Familie sind die Saisonarbeiter „schmutzige Zigeuner“, denen nicht zu trauen ist und auch bei Umfragen im Dorf stößt Vernau nur auf Klischees und Vorurteile.
Elisabeth Herrmann lässt ihre Lesenden zum einen aus Vernaus Sicht auf das Geschehen blicken, wählt aber auch die Perspektive der Frauen des Hofes, um den privaten Bereich der Familie zu beleuchten. Für Barbara Grundmann scheint der Tod ihres Mannes ein Befreiungsschlag zu sein, doch Michael Krebitz verlangt nun, dass sie ihm den Hof überschreibt, damit er endlich modernisieren kann. Behauptet wird, dass der Mörder Grundmanns auch Geld aus der Kasse gestohlen hätte. Schnell wird klar, dass nicht nur ein paar hundert Euro verschwunden sind, sondern auch Grundmanns gebunkertes Schwarzgeld von über zweiundzwanzigtausend Euro. Wie diese in Vernaus Tasche landen und er damit auf Tinas Spuren nach Rumänien, genauer gesagt nach
Timișoara, reisen wird, liest sich äußerst spannend. Tragisch jedoch ist, dass Tina, die dieses Geld offensichtlich gestohlen hat, auf dem Weg nach Hause in Tschechien ermordet wird. Sie ist die Schwester von Lucian Sandu und ihr Mann ist durch einen Unfall auf dem Grundmann-Hof zu Tode gekommen. Dass der gierige Grundmann aufgrund eines Racheakts sterben musste, ist ziemlich schnell klar. Nur wer steckt hinter beiden Morden? Und wen hat Tina, der man nun den Mord an Grundmann anhängen will, als Zeugin offenbar gesehen?
Wie immer lässt Elisabeth Herrmann ihre Hauptfigur, den finanziell nicht gerade erfolgreichen Anwalt Vernau, mit leicht ironischem Ton erzählen und legt den Finger in eine gesellschaftlich völlig unakzeptable Wunde. Dabei dreht sich alles um unser hoffentlich billiges Gemüse und Obst. Doch wer diktiert die Preise? Der Handel? Die Bauern? Und wie können die Produzenten gut davon leben? Wie beuten sie ihre Saisonarbeiter zur Spargel- oder Gurkenzeit aus? Und wie hart ist die Arbeit auf den Feldern?
Auch wenn vieles überzeugend gut konstruiert in diesem Krimi den Spannungsbogen aufrecht erhält, entsteht vor dem inneren Auge des Lesenden ein überzeugendes Bild von den Lebensumständen und Schicksalen rumänischer EU-Bürger.