Kathleen Vereecken: Eine größere Welt, Aus dem Flämischen von Meike Blatnik, Bloomsbury Verlag, Berlin 2012, 360 Seiten €16,90, 978-3-8270-5457-9
„Ich ging nach Hause und versucht mich zum ersten Mal an den Gedanken zu gewöhnen, dass es wirklich niemanden gab, dessen Kind ich war.“
Leon wird als Findelkind 1746 in einem Pariser Waisenhaus von seiner Mutter abgegeben. Tausende Babys pro Jahr teilen sein Schicksal, nur die wenigsten überleben. Leon, der in den Morvan zu der bitterarmen Pflegefamilie Marcelot gebracht wird, schafft es mit Hilfe der achtjährigen Méline, die ihn sofort in ihr Herz schließt und mit ihrer Liebe überhäuft. Ihre innige Zuneigung schützt den Jungen über Jahre hinweg.
An Leons Seite lernt der Leser das entbehrungsreiche Leben auf dem Land kennen. Als der Junge immer älter wird, versucht die verhasste Pflegemutter ihn als nichtsnutzigen Esser loszuwerden. Méline stellt sich vor das Kind, das zu schwach zum Arbeiten ist. Als Méline sich rettungslos in den neuen Eigner der Wassermühle verliebt, ahnt sie, dass die Mutter sie nie gehen lassen wird. Sie sucht voller Verzweiflung den Freitod.
Im tieftraurigen Leon reift ab diesem Tag ein Plan. Er will gegen Dienstleistungen beim Lehrer im Dorf das Lesen und Schreiben erlernen, um sich dann zu Fuß nach Paris aufzumachen. Seine Mutter hatte ihm einst einen Zettel mit einer Acht oder dem Zeichen für Unendlichkeit in die Windel gelegt.
Wie hart jedoch die Welt außerhalb der schon lieblosen Pflegefamilie ist, muss Leon am eigenen Leib spüren. Innere Stärke und Kraft schöpft Leon aus seinen Erinnerungen an Méline. Jeder Gedanke an sie wird zum inneren Schutzraum, den niemand zerstören kann.
An Prügel, Entbehrungen und harte Arbeit gewöhnt schlägt sich Leon ohne Geld und Verpflegung in die Stadt Paris durch. Im Stadtteil Les Halles wird er vorerst bleiben und sich an den Gestank, der aus den Massengräbern des nahen Friedhofs strömt, gewöhnen. Madame Chery nimmt den Jungen unter ihre Fittiche und doch muss Leon seinen Weg ganz allein finden.
In der Hoffnung seine Eltern ausfindig zu machen, kehrt er in das Waisenhaus zurück, in das ihn seine Mutter gebracht hatte. Doch die Chancen stehen schlecht.
Leon ahnt nicht, dass seine Mutter und heimlich sogar sein „empfindsamer“ Vater, Jean-Jacques Rousseau, ihn aus Gewissensbissen suchen.
nDie einfache Wäscherin Thérèse Levasseur bedauert ihr Handeln zutiefst und hat doch keine Wahl. Sie musste ihre fünf Kinder gleich nach der Geburt abgeben. Rousseau hatte ihr nie die Ehe versprochen, wollte sie aber nie verlassen.
Leon unternimmt alle Anstrengungen, um seine Fähigkeiten im Lesen und Schreiben zu verbessern. Und dann bricht in Paris das Lesefieber aus. Der Roman „Julie oder Die neue Heloise“ von Jean-Jacques Rousseau geht von Hand zu Hand. Auch Leon wird das Buch lesen, indem er es bei einem Buchhändler für ein paar Stunden ausleiht.
Als Leon nach und nach herausfindet, wessen ältester Sohn er ist, kann er über die Schriften des Philosophen und Vordenkers Rousseau nur noch spotten und still auch ein bisschen bewundern. Ein Mann, der für die damalige Zeit eines der wichtigsten Bücher über Erziehung geschrieben hatte, überließ seine eigenen Kinder, ohne die Chance sie später zu finden, dem Elend und sicheren Tod. Wie naiv zu glauben, es würde ihnen schon nicht so schlecht ergehen.
In einer anziehend schönen Sprache und atmosphärisch dicht beschreibt Kathleen Vereecken Leons Entwicklungsweg zu einem mündigen Bürger, der es aus eigener Kraft schafft, sein Leben in der Mitte des 18. Jahrhunderts nach seinem Willen zu gestalten.
Mag dieser historische Roman fiktiv den möglichen Spuren des ältesten Sohnes von Rousseau folgen, so kreuzen sich die Wege von Vater und Sohn nur einen kurzen Moment und auch dieser scheint glaubwürdig zu sein.
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