Jennifer Kitses: Ein Tag, eine Nacht, Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2018, 308 Seiten, €20,00, 978-3-423-28970-2
„Er selbst lernte auch. Im ständigen Alarmzustand zu leben. Auf der Hut zu sein. Er überlegte, bevor er den Mund aufmachte. Er kontrollierte sich. Das war anstrengend und ermüdete ihn, und manchmal vergaß er Dinge oder sah sich um, fragte sich, was er nur Augenblicke zuvor getan oder gesagt hatte.“
Ein nicht mehr ganz so junges Paar, Tom und Helen, sind Anfang vierzig, leben mit ihren dreijährigen Zwillingen seit zwei Jahren in Devon. Tom fährt jeden Tag mit dem Zug nach New York zu seinem Arbeitsplatz. Erst kürzlich hat er die Arbeit als Online-Redakteur bei einer Wissenschaftsredaktion gefunden, denn im unsicheren Medienbereich wurde sein letzter Arbeitsplatz einfach abgebaut. Er genießt die Ruhe dieser Zugfahrt, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, denn Tom befindet sich seit gut drei Jahren in einem existentiellen Dilemma. Mit Donna seiner Chefin im alten Job hatte er ein kurzes Verhältnis. Als sie ihm mitteilte, das sie schwanger ist, stand schon fest, sie bekommt das Kind nicht. Aber Donna ist in sich gegangen, ihr wurde schmerzlich bewusst, als erfolgreiche Karrierefrau ist das vielleicht ihre einzige Chance auf ein Kind. Tom sollte als Vater nie in Erscheinung treten, weder finanziell noch physisch. Doch Donna bezog ihn trotz gutem Netzwerk in die Versorgung der gemeinsamen Tochter Elana mit ein.
Nun hat sie ein Angebot, sie will mit Elana nach London ziehen. Als Tom dies erfährt, versucht er Donna umzustimmen. Helen hat keine Ahnung, dass es ein anderes Kind gibt, dass genauso alt ist wie ihre Mädchen. Sie weiß nur, dass Tom eine Liebschaft hatte. Diese war dann wohl auch der Grund, das für sie bezahlbare Haus in Devon zu suchen. Aber Helen und Tom haben sich finanziell völlig verkalkuliert, sie leben immer mehr vom Hin- und Herschieben ihrer Kreditkarten und stecken tief in den Miesen. Helen konnte nach der Geburt der Kinder, auch aus Spargründen der Firma, nicht mehr in der Werbebranche fest arbeiten. Ihr Chef bietet ihr eine Stelle als Freiberuflerin an. Sie nennt sich nun Art Director, arbeitet viel, verdient bedeutend weniger und hechelt von einer Deadline zur nächsten. Immer wieder setzt sie die Kinder vor einen Zeichentrickfilm, verlässt sich auf Toms Bereitschaft, gleich nach der Arbeit sich um die Kinder zu kümmern, um bis spät in die Nacht noch am Computer zu arbeiten. Tom und Helen spüren, dass sie in Devon, im Gegensatz zu Manhattan, sich an ihrem neuen Wohnort nicht richtig wohl fühlen.
Die Flucht ins kleine Glück mit Haus und Garten erscheint wie ein Trugschluss.
Tom jedoch, und das scheint sich, seit drei Jahren durch sein Leben zu ziehen, macht einen Fehler nach dem anderen. Er schaufelt sich Zeit für Elana frei, weiß, dass sein unsympathischer Chef ihn ständig beobachtet, da er auch im Job nicht mehr zuverlässig ist. Helen, die eigentlich vor nichts Angst hat, bemerkt, dass sich in ihr eine ungeahnte Wut angesammelt hat. Schon Kleinigkeiten bringen sie bereits auf die Palme. Noch lässt sie diese Anspannung nicht an den Kindern aus. Doch als sie mit den Zwillingen auf dem Spielplatz an zwei trinkende und rauchende Jugendliche gerät, entlädt sich eine Aggression, die Folgen haben wird. Und Helen wird, da Tom in dieser Nacht nicht nach Hause kommt, auf seinem PC unbekannte Fotos finden und eine Entdeckung machen.
Der Leser umkreist das Leben von Helen und Tom, die einen Tag und eine Nacht jeweils aus ihren Perspektiven in ihrem Alltag begleitet werden. Beide müssen extrem unangenehme Begegnungen aushalten, die sie auch körperlich an den Rand des Burnout bringen. Helen fühlt sich von den erwachsenen Brüdern der beiden Teenager verfolgt und sie reibt sich zwischen Kinderbetreuung und beruflichen E-Mails wie ständigen Anrufen ihrer Arbeitgeber völlig auf. Tom schreibt einen falschen Code und verbreitet die Todesnachricht eines Prominenten im Netz, die keine ist, und ahnt, dass sein Chef ihn feuern wird. Als er mit Donna in seiner knappen Mittagspause über ihren Wegzug debattiert, versteht er, wie sehr er an seiner dritten Tochter hängt. Er muss Helen, der er am meisten vertraut, endlich gestehen, dass Elana existiert und er in ihrem Leben eine Rolle spielen will. In der Binnenhandlung spitzen sich die Konflikte für Helen und Tom dramatisch zu, in ihren Reflexionen, z.B. über das finanziell ausgeglichene Leben von Helens Eltern wird deutlich, wie überfordert die heutige Generation mit all ihren Möglichkeiten, aber auch Ansprüchen und Erwartungen an ein gutes Leben ist.
Jennifer Kitses‘ Figuren sind nie eindimensional, ihre Dialoge wirken lebensecht und überraschen durch Gedankensprünge und Assoziationen. Das dünne Eis auf dem Helen und Tom, die doch eigentlich ein souveränes und sich liebendes Paar sind, dahingleiten, spiegelt die von Krisen bedrängte Gesellschaft, die immer öfter falsche Entscheidungen trifft.
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