Anna Quindlen: Ein Jahr auf dem Land, Aus dem Englischen von Tanja Handels, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015, 320 Seiten, €19,99, 978-3-421-04666-6

„Andere Menschen nutzen Fotos als Möglichkeit, sich die Nähe zu den Ereignissen in ihrem Leben zu erhalten; Rebecca hatte sie immer als Möglichkeit genutzt, sich abzugrenzen.“

Rebecca Winter, sechzig Jahre alt, Fotografin tauscht für ein Jahr ihre geliebte Wohnung mit Blick auf den Central Park gegen ein angeblich voll ausgestattetes Haus im ländlichen Gebiet des Staates New York. Sie hatte nur Bilder von dem Häuschen mitten in der Landschaft im Internet gesehen und musste dann jedoch feststellen, dass es nicht das angepriesene Schmuckstück mit Charme war, sondern eine ziemlich heruntergekommene Kate mit dunklen Räumen und nicht gerade besonders winterfest.

„Das Haus war ein Pflegekind, das von einem zum Nächsten abgeschoben wurde, ohne je geliebt, gewartet oder liebevoll eingerichtet zu werden, ein Quader aus braunem Holz mit rappelnden Fenstern und einem Klo, dessen Spülung man beim Abziehen gedrückt lassen musste.“

Die einst angesehene Künstlerin, die von der Malerei zur Fotografie wechselte und erfolgreich die Serie „Stillleben mit Brotkrümeln“ veröffentlichte, sucht nicht das romantische Landleben oder glaubt, sie müsse in diesem Lebensabschnitt der Stadt den Rücken kehren und in der Natur leben. Es ist ein ganz profaner finanzieller Engpass, der bei der Häufung der Rechnungen und dem Rückgang ihrer Verkäufe, sie so handeln lässt. Sie vermietet ihre Wohnung, zahlt fürs Häuschen und kann die Kosten für das Heim ihrer dementen Mutter und die Wohnung ihres Vaters, der als Geschäftsmann kläglich versagte und den Familienbetrieb in den Sand setzte, zahlen. Ab und zu schickt sich auch ihrem erwachsenen Sohn Ben einen Scheck. Jeden Tag schaut Rebecca Winter immer desillusionierter auf ihren Kontostand. Sie fotografiert in ihrer neuen Umgebung, findet aber nicht so recht das richtige Motiv, das den Zeitgeschmack trifft.

Als der Dachdecker Jim Bates, der sie von einem unliebsamen Mitbewohner, einer Waschbärin, befreit, ihr einen Fotojob anbietet, ist sie mehr als froh, obwohl niemand dies ahnen würde, denn auch im Ort gilt sie als die berühmte Künstlerin. Das hat sie der pausenlos redenden Sarah zu verdanken, die in ihrem Café „Tee für zwei“ ein Foto aus der Küchen-Serie zu hängen hat.
Rebecca hofft, in diesem Jahr künstlerisch wieder auf die Füße zu kommen und sie gewöhnt sich langsam an die Einsamkeit und an Jim, der mit seiner ruhigen Art und seinem zupackenden Wesen, ohne es zu ahnen, ihr vieles erleichtert. In Rückblenden erinnert sich Rebecca an ihr Leben mit ihrem geltungssüchtigen, untreuen, englischen Ehemann Peter, an die Kindheit ihres Sohnes Ben und ihre künstlerische Entwicklung, hinter der kaum ein tiefsinniges Konzept steckte, obwohl es sich die Kritiker so vorstellen.

„Sie wollten auch alle nicht glauben, dass sie einfach nur fotografiert hatte, was sie vorfand: eine leere Flasche, die auf der Seite lag und an deren geschwungenem Rand noch ein Tropfen Olivenöl schimmerte …“

Wenn Rebecca ihre Mutter besucht, hört sie im Inneren ihre spitze Art und Weise, wie sie gern die Tochter demütigte und sie fährt zu ihrem warmherzigen Vater, der nie ein böses Wort an sie richtete.
Als Rebecca die weißen Kreuze in der Landschaft entdeckt, hat sie wieder ein Fotomotiv, obwohl sie nicht ahnt, wer diese kleinen Mahnmale aufgestellt hat und wozu.

Ein Hund läuft ihr zu und sie beginnt auch ihn zu fotografieren.
Diese Fotos führen dann zum endgültigen Bruch mit ihrer unfreundlichen, stets kurz angebundenen Agentin.

Langsam schwindet das Fremdeln in der Natur und die Sehnsucht nach der Großstadt, die Verbindung zu den sogenannten Freunden, dem Kunstbetrieb, der endenden Popularität. Rebecca und Jim spüren die gegenseitige Anziehungskraft, die sie nicht mehr verheimlichen können. Doch Jim ist gut fünfzehn Jahre jünger als Rebecca, was ihn nicht stört.

Aber das Blatt wendet sich, denn Jim taucht nach der ersten gemeinsamen Nacht nicht mehr auf, die neue Agentin bringt Rebeccas Kreuz-Fotos medienwirksam heraus und Rebecca könnte auch nach dem schmerzlichen Tod des einundneunzigjährigen Vaters und der überraschenden Erbschaft wieder in ihr altes Leben zurückkehren, das ihr nun so vorkommt wie „eine Schneekugel, etwas, das ihr früher einmal sehr gefallen hatte, dem sie aber entwachsen war.“

Viele dieser wunderbaren Sätze, voller Lebensklugheit und vor allem ein bisschen ironisch, fallen in diesem so lesenswerten Roman. Hinter den Fassaden der Menschen auf dem Land, die Rebecca kennenlernt, steckt mehr als sie glaubt. Der finanzielle Absturz wird als Beginn eines neuen Lebensabschnittes erzählt, der den Blick für Neues eröffnet. Rebecca ergreift die Chance und erlebt sogar ein Happy End.