Anne Holt: Ein Grab für zwei – Selma Falcks erster Fall, Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Atrium Verlag, Zürich 2021, 461 Seiten, €22,00, 978-3-85535-121-3
„Drei Männer auf einem alten Foto waren alle innerhalb eines sehr begrenzten Zeitraumes in eine jeweils überaus unangenehme Situation geraten. Fast vierzig Jahre später, und der eine war noch dazu tot.“
Im Dezember 2017 landet die anerkannte und ziemlich berühmte Juristin Selma Falck mit Katze Darius in einem kleinen, dreckigen Loch in Oslo. Sie hat lang nicht mehr geweint, und auch jetzt kann sie sich zusammenreißen, denn alles ist, und das weiß sie ganz genau, ihr eigene Schuld. Sie musste das Haus der Familie verlassen, ihre erwachsenen Kinder wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben und ihren Mann Jesso vermisst Selma kaum. Ihr Mann hat ihr den Anteil des Hauses ausbezahlt und so nimmt der Geschäftsmann Jan Morell Abstand von einer Anzeige gegen Selma, die sein Geld unterschlagen hat. Selma soll sich laut Morells Forderung einer Therapie gegen Spielsucht unterziehen. Aber die 51-Jährige wusste sich bisher immer noch, aus allen misslichen Lagen zu befreien, und so kann sie nicht widerstehen, wenn ein illegales Pokerspiel anberaumt ist.
Und Bescheinigungen von Ärzten lassen sich immer noch fälschen, denn zum Glück unterliegen Ärzte wie Therapeuten der Schweigepflicht. Die eigenwillige Selma ist mit dem Obdachlosen Einar Falsen befreundet, der als Polizist in seinem Leben davor offenbar in der Vergangenheit einen Menschen getötet hat. Bei ihm sucht sie Rat, mit ihm diskutiert sie ihre Fälle.
Als Jan Morells bekannte Tochter Hege Chin Morell, eine mehrfach ausgezeichnete Langläuferin, des Dopings überführt wird, sucht Morell Hilfe bei Selma. Sie kann ihre Millionen Kronen zurückbekommen, wenn sie nachweist, dass Hege unschuldig ist. Der Skilanglauf ist Norwegens heilige Sportart. Doch warum hat man sich gerade Hege für diesen fiesen Akt ausgesucht? Liegt es an ihrer chinesischen Herkunft, denn auch Norwegen ist nicht frei von rassistischem Gedankengut?
Als dann auch noch Haakon Holm-Vegge, ebenfalls Langlauf-Profi, zu Tode kommt und auch bei ihm eine Dopingprobe positiv ist, beginnt der Fall brisant zu werden. Was geschieht da im Norwegischen Sportverband? Warum hatte Haakon eine Auseinandersetzung mit Arnulf Selhus, dem Finanzdirektor?
Parallel zur Selma – Handlung wird dem Leser und der Leserin vom Schicksal eines Menschen erzählt, der offensichtlich in einer Zelle nackt eingesperrt wurde. Morten Karlshang, ein bekannter Fotograf, ist der Gefangene, der panisch unter Klaustrophobie leidet. Sein Tod war jedoch nicht geplant. Drei Männer und ehemalige Freunde scheinen im Visier des Täters zu stehen: Jan Morell, Arnulf Selhus und Morten Karlshang. Doch was verbindet die drei und welche Rolle spielt der dubiose Autor Sølve Bang?
Anne Holt führt ihre Leser immer wieder auf falsche Fährten und kommt über Umwege und ein Drehbuch des Täters innerhalb der Handlung zum Kern der letztendlichen Rachegeschichte, die den beteiligten Opfern nur das Gefühl von Verlust und Schmerz vermitteln sollte. Doch wie so oft laufen noch so gut ausgedachte Pläne aus dem Ruder. Am aufregendsten ist bei Anne Holt jedoch die sehr ambivalente Hauptfigur, die alles verloren hat: Heim, Familie und Kanzlei. Die Handlung umkreist immer wieder politische Debatten über Sportfunktionäre, Autorenverträge und Sponsoren für den nationalen Lieblingssport der Norweger. Vielleicht hat Anne Holt zu viel in diesen ersten Band gepackt und doch bleibt die Neugier nach dem Lesen auf Selma Falcks weiterem unkonventionellen Weg.
„Sie musste immer etwas tun, was sie quälte, sonst war sie nichts.“