Dona Leon: Feuerprobe | Commissario Brunettis dreiunddreißigster Fall, Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz, Diogenes Verlag, Zürich 2024, 328 Seiten, €26,00, 978-3-257-07283-9

„Brunetti kam da nicht mehr mit, und es machte ihm Angst. Die Gangs suchten emotionale Bestätigung: Furcht, Bewunderung, Respekt. Es ging ihnen weder um Profit noch um Besitz, die beiden heiligen Kühe des Kapitalismus. Ihnen lag nichts daran, ihre Opfer zu berauben, Häuser zu plündern, Köpfe auf Lanzen zu spießen und auszustellen.
Sie filmten einfach nur ihre Schlägereien und posteten sie überall, rühmten sich ihrer Follower, die nach jeder Schlacht mit einer rivalisierenden Gang sprunghaft anstieg.“

Nebenbei jedoch werden auch die Fensterscheiben von Geschäften eingeschlagen und wertvolle Dinge gestohlen. Die sogenannten Babygangs sind ein generelles Problem Italiens, da diese Jungsgruppen sich bekannte Plätze, in Venedig natürlich den Markusplatz, für ihre Sozial Media wirksamen Aktionen auswählen. Und natürlich, wie kann es anders sein, versuchen einflussreiche Honoratioren alles herunterzuspielen, damit nichts in der Presse erscheint und die Touristen nicht abgeschreckt werden.
Doch warum glauben Kinder oder Jugendliche, dass sie sich nur spüren, wenn sie mit Verletzungen triumphal oder gedemütigt nach Hause gehen? Und wo sind die Eltern, die wissen, wo ihre Sprösslinge in der Nacht herumschwirren? Und warum haben Väter und Mütter keine Zeit mehr für ihre Kinder und sind ihnen kein sonderlich gutes Vorbild? Entsetzt oder auch gleichgültig holen die Eltern ihre Kinder nach diesen Schlachten von der Polizeiwache ab. Da Commissario Claudia Griffoni den Vater eines Jungen nicht erreichen kann, beschließt sie, Orlando Monforte in den Morgenstunden allein nach Hause zu bringen. Ein Fehler, wie sich später herausstellen wird.
Da offensichtlich das wahre Verbrechen in Venedig pausiert, bittet Patta, Commissario Brunettis nerviger Vorgesetzte, seinen besten Mitarbeiter um einen Gefallen. Patta hat eine finanzstarke Amerikanerin kennengelernt, die nun Hilfe bei allen möglichen behördlichen Gängen, aber auch baulichen Veränderungen und Sicherheitsfragen benötigt. Sie hat einen gewissen Dario Monforte engagiert und Brunetti soll diesem auf die Finger schauen.
Doch Dario Monforte, der Vater des aufgegriffenen Orlando, hat eine undurchsichtige Vita, die die unverzichtbare Elettra längst recherchiert hat. Auf der einen Seite ist er ein Kriegsheld und hat im Irak bei einem Brand Menschenleben gerettet, auf der anderen Seite wurde er nicht ausgezeichnet, nicht mal mit einer Tapferkeitsmedaille.
Und dann ist da noch der eigensinnige forensische Cheftechniker, Enzo Bocchese, der in der Questura arbeitet. Auch er bittet Brunetti bei der Auswahl seiner wertvollen Renaissance – Statuen um einen Rat. Aus Sicherheitsgründen will er diese verkaufen, denn er fühlt sich im Haus von einem Sechzehnjährigen bedroht, der offensichtlich auch Boccheses Wohnung durchsucht hat. Als Bocchese dann nicht zur Arbeit erscheint, findet Brunetti ihn schwer verletzt in seiner Wohnung. Viele seiner Statuen sind mutwillig zerstört worden.

Weiterhin wird berichtet, was Dario Monforte als Quartiermeister wahrscheinlich im Irak getrieben hat. Zwar war die Interne Revision seinen privaten Schiebergeschäften mit Waffen und irakischem Kulturgut auf den Fersen, aber die Explosion mit dem folgenden Brand veränderte alles. Als Held, so glaubt auch sein Sohn, kehrt Dario Monforte zurück. Und offenbar hat er sogar noch Einfluss, denn er versucht über einen schmierigen Anwalt Claudia Griffoni Angst einzujagen. Niemand soll in seiner Vergangenheit herumwühlen und seine Machenschaften im Irak aufdecken oder gar veröffentlichen.
Vertuschungen von Straftaten und vor allem eine offensichtlich immer mehr verrohende Jugend scheint der italienische Staat, über den aktuellen Zustand will Brunetti gar nicht erst sprechen, zu dulden. Vielleicht nichts Neues bei Donna Leon, aber doch eindrücklich zu lesen.

Wiedermal ein sehr politischer, gesellschaftskritischer Roman, dessen alarmierender Inhalt nicht nur Brunetti zu denken geben sollte!