Māris Putniņš: Die wilden Piroggenpiraten. Ein tollkühnes Abenteuer um eine entführte Mohnschnecke und ihre furchtlosen Retter, Aus dem Lettischen von Matthias Knoll, Fischer Schatzinsel, Frankfurt a.M. 2012, 652 Seiten, €14,99, 978-3-596-85452-3
„Sie mochte es wirklich, Kapitän eines Piroggenseglers zu sein, Entsetzen unter den Besatzungen der Kauffahrer zu verbreiten und Kleietaschen und Fladenbrote bis zum Starrkrampf zu erschrecken. Schießpulverqualm, schwarze Zwetschgen, die, aus einer Kanone abgefeuert, kreischend und fluchend in die Bordwand eines feindlichen Schiffes schlugen, dass die Splitter durch die Luft flogen, Musketengeballer und das Ratschen zerreißender Segel, sinkende spunische Fregatten und Bockwürste, die plärrend durch die Luft flogen!“
Beim Großen Konditor, es ist schon ein seltsames Land, in das der lettische Autor Māris Putniņš seine zuerst erstaunten und dann sicher begeisterten Leser in diesem ziegelsteindicken Buch entführt. Zum einen ist da die Hafenstadt Murseille, in der die Süßteile und Kuchen zu Hause sind. Aber es gibt auch noch Käsien, die Feingebäckprovinz, Wursterreich und Piroggien. Seine Bewohner sind für ihre wilden Piraten berüchtigt, die als Wan-Tan-Piroggen, bärtige Piroggen aus Sibeerien, Pilzpiroggen oder Speckpiroggen auf dem Meer zwischen Tortillia und Sankt Krokant ihr Unwesen treiben. Als die schöne Eloise, eine etwas verwöhnte Mohnschnecke, sich zur Insel des berüchtigten Grafen Napoleon, einem Schichtkuchen mit Sahnefüllung, von dem jungen Eclair übersetzen lassen will, kommt ihm Artur Weißbrot, genannt Hörnchen, in die Quere. Er lädt Mohnschnecke auf seine Yacht „Zuckerschnecke“ ein und schon ist das Unglück geschehen. Die wilden Speckpiroggen der Speckkugel (Piroggenpiratenflagge: Bagel mit zwei gekreuzten Salzstangen) tauchen am Horizont auf und entführen das liebreizende Mädchen, um sie auf dem orientalischen Naschmarkt von Djadida zu verkaufen.
Der gnadenlose Kapitän Mordan führt das Regiment auf dem Piratenschiff und wer nicht zu Semmelbröseln gemacht wird, der muss in den Tiefen des Meeres ertrinken.
Der untröstliche Eclair und der hochnäsige Hörnchen kurbeln nun die Rettungsaktion für Mohnschnecke an, Eclair, weil er sich schuldig fühlt und Hörnchen, weil Mohnschneckes Vater, Mohnstrudel, eine Belohnung von 100 Scheffel Mohnsaat für die Errettung der Tochter in Aussicht stellt.
Das Abenteuer beginnt!
Schnell lässt der Leser sich auf die unmöglichsten Vermenschlichungen ein (auch wenn ihm das Wasser im Munde zerläuft) und denkt gar nicht mehr darüber nach, wie denn so ein wahnwitziges Sahneteilchen oder eine Räuberblutwurst überhaupt atmen, geschweige denn reden oder laufen kann. Und wie die Kuchen, Teigteilchen und Sahneschnitten vom Mehlwurm gebissen werden können, auch nicht.
Doch wer nun glaubt, dass Mohnschnecke sich ihrem Schicksal hingibt, der weiß nichts über verwegene Teigteilchen. Mit ihrem Temperament, ihrer Schönheit und Vorliebe für Schmuck wickelt die junge Frau den alten Kapitän Mordan um den Finger. Er bietet ihr schnell seine Kajüte an, sorgt dafür, dass an Bord nicht mehr so viel geflucht wird und alle Piraten sich mal ordentlich waschen. Und als Mohnschnecke auch noch während eines Kampfes dem sauertöpfischen Mordan das Leben rettet, ist er ihr völlig verfallen und übergibt ihr nach einem Navigationsschnellkurs seinen Posten. Käpt’n Mohn ist geboren! Allerdings hat sie sich den Kapitänsmaat Halbpirogg zum Feind gemacht und das soll Folgen haben.
Inzwischen schließt sich Hörnchen mit Diener Zwieback der Knofikarawane an, um Mohnschnecke auf dem Naschmarkt freizukaufen. Eclair lernt den liebenswerten Pelmeni Otto kennen, der eigentlich ein richtiger Pirogg werden will, und beide stechen nach harter Aufbauarbeit mit seinem Schiff in See.
Diese außergewöhnliche, wahnwitzige Handlung, Übereinstimmungen mit ähnlichen Piratengeschichten mit menschlichen Akteuren natürlich ausgeschlossen, hat alles was eine spannende Abenteuergeschichte haben muss. Da werden Schlachten auf stürmischer See geschlagen, der Gegner wird ausgetrickst und hinters Licht geführt. Die seltsamsten Figuren kommen ins Spiel und immer haben die Teigteilchen Angst um ihre Füllung und die sich äußerst gern prügelnden Würste, ob Blut- oder Grützwurst, (Schlachtruf beim Überfall „Barbecue!“) um ihre Haut. Es geht um unverbrüchliche Freundschaft, Mut, Ehre, verschmähte Liebe und hinterhältigen Verrat.
Kurzzeitig denkt man beim Lesen an Gianni Rodaris „Zwiebelchen“, verwirft aber wieder schnell den Gedanken an Gemüse. Immerhin sind bei Māris Putniņš in den Klosterkapiteln Novize und Abt Spinat und Spargel. Allerdings wird der reuemütige Piroggenkapitän, der sich in die Stille der Kirche zurückziehen wollte, das Grünzeug bald hassen.
Auf über 650 Seiten unterhält Māris Putniņš jeden Leser mit seinen überbordenden Einfällen, dazu zählt natürlich seine illustre, köstliche Gesellschaft aus allen möglichen Zutaten und die witzigen Dialoge.
Keine Angst vor dicken Schinken – garantiert ein Riesenlesespaß, viel Seemannslatein und vor allem ein gutes Ende!
Schreibe einen Kommentar