Susan Beth Pfeffer: Die Verlorenen von New York, Aus dem Englischen von Annette von der Weppen, Carlsen Verlag, Hamburg 2011, 350 Seiten, €16,99, 978-3-551-58219-5
„Ich war so verwöhnt, dachte er. Ich habe so viel gehabt und es nie zu schätzen gewusst. Ich wollte immer noch mehr.“
Ein Asteroid prallt auf den Mond und entgegen allen Berechnungen driftet der natürliche Satellit aus seiner Umlaufbahn und kommt der Erde bedenklich nahe. Die verheerende Folgen sind für den Menschen nicht mehr beherrschbar, die Gezeiten werden zu tobenden Tsunamis, Vulkanausbrüche nehmen zu und Erdbeben fordern tausende Tote.
Susan Beth Pfeffer wählt dieses so unwahrscheinliche Naturereignis zum Ausgangspunkt ihrer geplanten Endzeit-Trilogie. Bereits im Roman „Die Welt, wie wir sie kannten“ spielt die amerikanische Autorin mit der Ohnmacht des Menschen gegenüber dem unberechenbaren Universum. Die 16-jährige Miranda berichtet im ersten Teil in ihrem Tagebuch, wie ihre Kleinfamilie in Pennsylvania trotz Strom- und Heizölausfall, Hunger und eisiger Kälte überlebt. Susan Beth Pfeffer sensibilisiert die Wahrnehmung ihrer Leser für das täglich so Selbstverständliche. Im aktuellen Jugendroman „Die Verlorenen von New York“ jedoch führt sie den Leser schonungslos ohne lange Einleitung in das hoffnungslose zeitgleiche Szenario mitten nach Manhattan.
Wieder wendet sie den Blick vom großen Ganzen ab und konzentriert ihr Handlungsgeschehen auf das individuelle Schicksal einer kleinen Gemeinschaft, der puertoricanischen, religiösen Familie Morales. Der 17-jährige Alex übernimmt nach dem Einschlag des Asteroiden die Verantwortung für seine zwei jüngeren Schwestern Bri und Julie. Glauben die Jugendlichen noch zu Beginn, dass es der Wissenschaft möglich sei, den Mond wieder in seine Umlaufbahn zu katapultieren, so erkennen sie schnell, dass sich künftig niemand damit beschäftigen wird. Scheute sich die Autorin im ersten Band davor, dem Leser drastische Szenen vor Augen zu führen, so geht sie im zweiten Teil bis an die Schmerzgrenze. Immer noch hoffend, die Mutter zu finden, der Vater ist wahrscheinlich beim Besuch in Puerto Rico von der Flutwelle erfasst worden, schaut sich Alex unter den gefundenen Leichen im Yankee-Stadion um. Tausende Fliegen umkreisen die grausig anzuschauenden Menschen, die vom plötzlichen Tod überrascht wurden.
Alex ist erleichtert, die Mutter ist nicht unter den Toten. Doch von Tag zu Tag schwindet die Hoffnung auf eine Rückkehr. Trotz Sommerzeit werden die Temperaturen immer eisiger. Seuchen brechen aus, Ratten erobern die Straßen, Leichen werden nicht mehr entsorgt. Die Menschen sterben mitten auf der Straße einen lautlosen Hungertod. Wer über Beziehungen oder wertvolle Tauschmittel verfügt verlässt Manhattan, denn es wird vorausgesagt, dass die Insel unterspült werden wird. Zurück bleiben die Armen und Kranken. Alex ist mit der Verantwortung für die Schwestern und der sozialen Isolation völlig überfordert, denn weder die Kirche, Alex hat keine Zeit, um über Barmherzigkeit oder Regeln zu diskutieren, der Glaube, noch ein Gott können ihm helfen. Immer wieder muss er sich mit seiner starrsinnigen 13-jährigen Schwester Julie auseinandersetzen.
Alle Regeln des menschlichen Zusammenlebens, jegliches moralische Empfinden oder ethische Fragen werden ohne Erbarmen außer Kraft gesetzt. Und so überleben er und seine Schwestern ( Bri wird es am Ende nicht schaffen ) nur durch die linken Geschäfte mit dem schmierigen Harvey, der auch vor Menschenhandel nicht zurückschreckt. Mit seinem Mitschüler Kevin, der sich in einer Zeit, in der jeder nur an sich denkt als selbstloser Freund entpuppt, beginnt Alex das so genannte „Leichen-Shopping“. Schmuck, Kleidung – alles, was Wert hat, nehmen die Jungen den Toten, die auf den Straßen liegen, ab und tauschen sie gegen Lebensmittel. Oft gelangt der ruhige Alex, dessen ausweglose Situation den Leser gedanklich nicht mehr loslässt, an einen Punkt der totalen Hoffnungslosigkeit. Aber Alex gibt, trotz aller Rückschläge, nie auf und das wirkt in einer lebensfeindlichen Umwelt fast übermenschlich.
Beim Lesen von Susan Beth Pfeffers Endzeitthriller empfindet man keine Lust am Schrecken, sondern nur das blanke Entsetzen. Nie geht es um spektakuläre Effekte oder Kosumkritik, der Roman überzeugt durch die enorme Kraft seiner Hauptfiguren. Trotz aller Fiction ist die Darstellung der bedrückenden Atmosphäre im Angesicht des Todes nicht unrealistisch. Die Autorin spart nicht an drastischen Schilderungen und emotionalen Szenen. Alex und Julie jedenfalls werden der Hölle Manhattan entkommen. Immerhin sollen sich Miranda aus dem ersten Band und Alex im dritten Teil treffen. Biblisch alt ist diese Thematik der Untergangs- und Überlebensgeschichten und so wäre es interessant zu erfahren, wie sich die versprengten Überlebenden verhalten, zu einer neuen Gesellschaft zusammenfinden und mit den Relikten der Vergangenheit umgehen.
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