Anna Shinoda: Die Mitte von allem, Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis, Magellan Verlag, Bamberg 2015, 384 Seiten, €17,95, 978-3-7348-5604-4
„Ich kann Lukes Heimkehr nicht ignorieren. Ich kann nicht so tun, als würden wir einfach ein schönes Willkommensessen für meinen Bruder abhalten. Ich werde mein Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Ich hole tief Luft und atme wieder aus. Mir ist klar, dass Luke verhaftet wird, sobald die Polizei eintrifft. Aber ich muss das tun, was das Richtige für mich ist.“
Bereits mit sieben Jahren erfährt Clare, dass ihr zwölf Jahre älterer Bruder Luke im Gefängnis sitzt. Eine klare Antwort, warum Luke hinter Gittern gelandet ist, bleibt die Mutter ihr schuldig.
„Er war zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Clare weiß, dass sie die strenge Mutter nicht nach Einzelheiten fragen darf, denn sie kann sich unter diesem Satz nichts Genaueres vorstellen und so schlägt ihre Fantasie Kapriolen.
Zehn Jahre später ist Luke erneut angeblich wegen Diebstählen und Drogendelikten im Gefängnis und hier setzt die Geschichte ein. Clare erinnert sich im Laufe der Handlung an ihre Erlebnisse mit dem geliebten Bruder, den sie nie lang zu sehen bekam, weil er immer wieder straffällig wurde. Auch jetzt steht seine Entlassung nach vier Jahren Haft bevor. Clare absolviert ihr letztes Highschool-Jahr und arbeitet seit ihrem zehnten Geburtstag für ihren Aufenthalt in einem angesehenen College. Die Eltern wollen aus Kostengründen, dass sie weiterhin zu Hause wohnt. Aber Clare will einfach nur fort, fort vom Kontroll- und Putzzwang ihrer Mutter, die sie wie ein Kind, behandelt, das sich allen Regeln unterwerfen muss. Der Vater hält zur Mutter und verschanzt sich hinter seiner Arbeit. Dabei ist Clare eine sehr gute Schülerin, die auch nie im Haus die Arbeit verweigert. Um so schmerzvoller ist der fordernde Ton, den die Mutter anschlägt, wenn sie ihre Befehle Clare entgegenschmettert. Peter, der vier Jahre ältere Sohn, hat mehr Freiheiten als die Schwester. Auch wenn Clare nicht zu den Partys ihrer Freunde gehen darf, findet sie oftmals einen Weg, um die Eltern auszutricksen. Dieses Mal jedoch klappt es nicht und Clare wird mit einem einmonatigen Hausarrest mit Fernseh-, Computer- und Handyverbot bestraft. Als sie sich an eine Anweisung der Mutter nicht hält, baut der Vater die Batterie aus ihrem Auto aus und so muss sie zu ihrem Job als Rettungsschwimmerin mit ihrem uralten Fahrrad radeln.
In ihrer Erinnerung ist Luke, der sie liebevoll „Piepmatz“ nennt, der aufmerksame und vor allem weichherzige Bruder, der im Gegensatz zu Peter nicht so fies zu ihr ist. Alle seine Briefe hat sie aufgehoben, auch wenn sie weiß, dass der Ruf ihrer Familie angekratzt ist und sogar in der Schule muss sie mit den Vorurteilen der Lehrer und Schüler klarkommen. Aber sie mag ihren Bruder, der, wenn er nach Hause kommt, mit offenen Armen von den Eltern empfangen wird. Aber Luke fällt, kaum dass er wieder in der Freiheit angekommen ist, in seine alten Verhaltensmuster zurück. So klaute er der kleinen Schwester, die ihn nie beschuldigt hätte, das Sparschwein, er prügelte sich mit dem Vater und bestiehlt auch die Eltern und die Nachbarn.
Als Luke aus dem Gefängnis zurückkehrt, wohnt er wieder bei den Eltern. Peter geht auf Distanz, aber Clare lässt sich von ihm umgarnen. Für die Mutter ist Luke „die Mitte von allem“, auch wenn er behauptet, er wäre so geworden, da er nie geliebt wurde. Und Luke zieht Clare in seine kriminellen Machenschaften hinein, so dass sie sich, als er abgehauen ist, polizeilichen Befragungen stellen muss. Sie verliert ihren Job und zum Teil auch das Vertrauen ihrer Freunde. Langsam wandelt sich ihr geschöntes Bild von ihrem Bruder, den die Mutter immer als unschuldig schuldig geworden hinstellt.
Als Luke dann wieder inhaftiert wird, dieses Mal wegen sexueller Nötigung und weiteren Delikten, eskaliert die Handlung, denn nun hat Clare Angst vor ihm. Ohne die Tochter zu informieren, räumt die Mutter Clares Konto ab, um Lukes Kaution für die Weihnachtstage zu bezahlen.
Clares Empörung über diesen Eingriff in ihre Lebenspläne, verändert ihr Verhältnis zu den Eltern grundlegend. Sie versteht, dass die Mutter immer auf Lukes Seite stehen würde. Sie nimmt der Mutter heimlich das Geld wieder ab und versteckt es bei ihrer Freundin Drea. Auch wenn sie nun als Egoistin hingestellt wird, ist klar, sie kann nicht mehr loyal zur Familie sein, die immer alles vertuschen will und vor allem verschweigen. Neben den Familienfotos, die alle fünf glücklich beieinander zeigt, spukt ein nerviges Familienskelett durch die Geschichte, das allerdings nur Clare sehen kann. Es nimmt mit seinen teils komischen Kommentaren die Last der Albträume von Clares Seele.
Den Starrsinn der Mutter, die der Meinung ist, dass sie immer wisse, was „das Beste für alle sei“, wird Clare künftig ignorieren und sich aus ihren Fängen und Bevormundungen befreien. Sie kann Luke nicht verzeihen, dass er nicht nur einem Menschen wirklich weh getan hat, denn in seinem letzten Prozess wird er zu siebenundzwanzig Jahren Haft verurteilt und Clare weiß nun endlich, dass dies nicht für angebliche minimale Diebstähle sein kann.
Anna Shinoda schreibt flüssig, unterhaltsam und dabei psychologisch überzeugend von einer komplizierten Familienbeziehung. Clare kann nicht verstehen, dass sie mit ständigem Misstrauen verfolgt und auch moralisch erpresst wird und niemand in der Familie ihr vertraut. Aus Clares Perspektive betrachtet der Leser die gegenwärtigen Geschehnisse und Rückblicke in die Vergangenheit. Es ist ein schwieriger Prozess der Abnabelung, den die junge Frau durchlaufen muss, bis sie erkennt, mit welchen Lebenslügen die Eltern sich Tag für Tag über Wasser halten und wie doppelgesichtig ihr älterer Bruder ist. Mag Clare von Albträumen geplagt sein, die Familienskelettgeschichte kann ein aufmunterndes Moment in der Geschichte sein, passt aber eigentlich nicht so richtig in diesen realistischen Roman.
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