Jami Attenberg: Die Middlesteins, Aus dem Englischen von Barbara Christ, Verlag Schöffling & Co., Köln 2015, 264 Seiten, €21,95, 978-3-89561-202-2

„ Und während er so ganz allein in einem Zimmer voller Menschen stand, die sich auf die Seite einer Toten schlugen, statt ihn zur Kenntnis zu nehmen, glaubte er, zumindest den Schimmer einer Ahnung zu haben, warum sie sich ins Grab gegessen hatte. Essen war einfach ein wunderbares Versteck.“

Edith, genannt Edie, Herzen, verheiratete Middlestein ist bereits als Kind zu dick, zu unbeweglich und zu wehleidig. Dabei ist Edie eine clevere Person und schon gar nicht auf den Kopf gefallen, ganz im Gegenteil. Sie absolviert ihr Jurastudium und wird gute dreiunddreißig Jahre in der gleichen Anwaltskanzlei arbeiten. Als die neuen Partner jedoch die 160 Kilo schwere Edie erblicken, schicken sie sie mit einer guten Abfindung in den Ruhestand. Zu dem Zeitpunkt ist Edie mit ihren Nerven bereits am Ende und wehrt sich nicht trotz offensichtlicher Diskriminierung. Nach gut vierzig Jahren Ehe hatte sie ihr Mann Richard verlassen. Über Jahre hinweg sah er sie dicker und unfreundlicher werden. Ihre Sucht nach Junk-Food und allem was salzig oder extrem süß ist wurde immer maßloser. Mit all ihrem Zorn, ihrer Kraft, ihrem Kummer und ihrer Wut hat sie ihn tyrannisiert, klein gemacht und gedemütigt. Wie ein Spatz hackte sie auf dem Ehemann herum, wie auf einen Krümel. Als klar wird, dass sie wieder operiert werden muss, ihr Essverhalten nicht umstellt und so weiter macht wie immer, sucht er sich eine neue Wohnung. Er macht, wie es so schön heißt, „die Flatter“.

Die Frauen in der Familie, Robin, Edies misslaunige und anstrengende Tochter und Rachelle, die perfekt Schwiegertochter, Mutter und Ehefrau von Edies Sohn Benny verachten Richard für diesen Schritt. Er darf seine wunderbaren Enkel nicht mehr sehen und wird aus dem Familienbund ausgeschlossen. Robin und Rachelle hoffen nun, durch ihren Einfluss Edie vor der fortschreitenden Diabetes und dem Tod zu bewahren. Aber Edie kann nicht anders, auch wenn Beine, Zähne, Herz und Blut in Gefahr sind. Sie steigt ins Auto und fährt von einem Fastfood-Laden zum nächsten. Bereits ihre Mutter sah es als ihre Aufgabe an, die Kinder mit Essen zu versorgen. Immerhin ist ihr Vater aus der Ukraine geflohen und total verhungert in New York gelandet. Der Kühlschrank war immer gefüllt mit all den guten Sachen, die Edie nie stehen lassen konnte.

Als Edie noch jünger war und beweglicher hat sie sich in ihrer jüdischen Gemeinde engagiert, war interessiert am Leben anderer und fühlte sind integriert.
Robin kann sich mit den jüdischen Festtagen in der Familie nicht anfreunden. Sie muss fast gezwungen werden, um mal vorbei zu schauen. Ist sie doch aus Chicago fortgezogen, um all dem zu entfliehen. Nun lebt sie zumindest nicht in einem Vorort von Chicago, wie ihre Eltern oder ihr Bruder, sondern im Zentrum. Ihr Nachbar Daniel bedeutet ihr viel, aber sie wehrt sich vehement gegen das Gefühl, sich in ihn zu verlieben. Trinkt Robin zu viel Alkohol, so beruhigt sich Benny mit einem Joint jeden Abend. Er soll sich nun Sorgen um die Mutter machen, fordert Rachelle. Aber er kümmert sich mehr als sie ahnt und doch sind ihm die Hände gebunden. Es fallen ihm bereits die Haare aus, obwohl in seiner Familie niemand eine Glatze hat. Nichts ändert sich, wenn in Bennys Familie nur noch Gemüse auf dem Tisch steht.

Jami Attenberg lässt ihre Hauptfiguren reden, ob es nun Edie, Robin, Richard, Rachelle oder Benny, aber auch die Bekannten aus der Synagoge. Von allen Seiten schauen die Protagonisten auf die Geschehnisse in der Familie Middlestein. Die amerikanische Autorin beobachtet die Familie als Mikrokosmos, legt die Finger in die Wunden der Middlesteins und schreibt atmosphärisch so präzise, das man glaubt, man sitzt mit Edie am Küchentisch und bekommt die Kekse ohne Fett, aber mit viel Zucker zugeschoben.

Die Hilflosigkeit der Familienmitglieder, die zwischen ihren Gefühlen und rationalem Denken schwanken, gegenüber einer starken, aber auch streitbaren Frau, die sich einfach nicht helfen lassen will, wird genauestens wiedergegeben. Jede Empfehlung, ob nun Ernährungsberater oder mögliche Klinikaufenthalte, werden vehement abgeschmettert. Lasst uns essen gehen, ist die Lösung aller Fragen und das „Versteck“, in dem sich Edie eingerichtet hat und das ihr Untergang sein wird.