Lena Gorelik: Die Listensammlerin, Rowohlt Berlin, Berlin 2013, 352 Seiten, €19,95, 978-3-87134-606-4
„Jedenfalls schrieb ich außer in dieser Vorstellung nicht, und meine alte Figur schien meine Adresse vergessen zu haben.“
Sofia, die Erzählerin des einen Erzählstranges und wie sich herausstellen wird, auch des zweiten, ist ziemlich durch den Wind. Ihre demente Großmutter, die früher jeden Tag einen Kuchen gebacken hat, ist seit längerem bereits in einem Münchner Altersheim, ihre Tochter Anna wird in knapp einer Woche am Herz operiert und ihre Mutter, die Lew Tolstoj über alles liebt und gern zitiert, nervt sie mit ihren Eigenheiten und Ausbrüchen als Drama-Queen.
Mit Leidenschaft und in den unmöglichsten Situationen schreibt Sofia ihre Listen. Es sind keine To-do-Listen, sondern thematisch geordnete Aneinanderreihungen von Begriffen, Beobachtungen, Erlebnissen, Erfahrungen, die zum Beispiel folgende Überschriften tragen: „Liste der ver(schlimm)besserten Redewendungen meiner Mutter“ oder „Liste schöner Menschen“ oder \“Liste mit peinlichen Kosenamen“ oder „Liste mit Dingen, die ich nie geschenkt haben möchte“ usw.
Als Sofia die Wohnung ihrer Großmutter nach und nach ausräumt, findet sie in einer kleinen Holzschachtel ebenfalls Listen in kyrillischer Schrift. Sofias Familie ist in den 1970er Jahren aus der Sowjetunion ausgereist oder eher von Frank, dem zweiten Mann von Sofias Mutter Anastasia, errettet worden, was immer wieder betont wird.
Sofias leiblicher Vater ist angeblich, so besagt es die Liste, bei einem Unfall ums Leben gekommen.
Im zweiten Erzählstrang, graphisch in einer anderen Schrift abgehoben, wird vom Leben der Großmutter in Moskau erzählt. Drei Kinder hat sie geboren, Andrej, Grischa und Anastasia. Onkel Grischa ist der Clown in der Familie, bereits bei den Trauerfeiern um Stalin, 1953, probiert er alle möglichen Grimassen aus, um die Mitschüler zum Lachen zu bringen. Er nimmt als Schüler an der Beerdigung von Boris Pasternak teil und kennt keine Angst. Angst haben nur die Familienmitglieder, die um den unberechenbaren Onkel Grischa, wie sie ihn alle nennen, und sich selbst fürchten. Als Künstler und Listenschreiber schlägt er sich durch und endet als Dissident. Aber von seinem Schicksal erfährt Sofia erst als die Großmutter nach ihrem Fluchtversuch aus dem Altenheim gestorben ist.
Es entsteht die Liste:\“Was ich über Onkel Grischa weiß“: – er wurde von jemandem verraten und, während er fotografierte, verhaftet, mein Vater, der ihm half, ebenfalls – beide wurden zur Strafe ins Arbeitslager Perm-36 geschickt – die Polizei begann, auch die Familie zu verfolgen
Anschaulich wie geschickt und mit trockenem Humor, aber auch nachdenklich beschreibt die Autorin, die aus Leningrad stammt und 1992 nach Deutschland kam, eine Familiengeschichte in den vergangenen sowjetischen Zeiten und in der Gegenwart. Onkel Grischa ist längst gestorben, auch Sascha, Sofias Vater, der Frank, den Erretter noch gekannt hat. Der deutsche Kommunist hat Anastasia, ihre Mutter und Sofia dann bei der Flucht geholfen. Vieles haben Anastasia und ihre Mutter in Deutschland neu gelernt, aber vieles wird auch so gehandhabt, wie sie es aus Sowjetzeiten kennen.
Dabei ist nichts wirklich so, wie es die Familienlegende vermittelte, einige von Sofias Listen müssen neu geschrieben werden.
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